Heft 
(2016) 102
Seite
117
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Nicole Kaminski: Literaturkritik ohne Sprachkritik? Fetscher 117 zur Kritikertätigkeit Fontanes und Kerrs so ausführlich ermittelt und berücksichtigt. 1 Der Einstieg mit diesen beiden Autoren versorgt die Arbeit sogleich mit ihrem Hauptargument, dass die moderne Kritik ostentativ, ja be­kenntnishaft subjektiv, nämlich auf das Geschmacksempfinden des Kri­tikers zentriert sei. Dem Theaterkritiker Fontane attestiert sie das unter Berufung auf dessen eigene Worte(24, 46). Dass Kerr bis zur Flapsigkeit willkürlich urteile, war und ist ein außerhalb des Feuilletons laut ge­murmeltes On-Dit der Kritik der Kritik. Beide seien demnach impressi­onistische Kritiker gewesen(123). Trotz der großen Aufmerksamkeit, mit der sich das Buch diesem Aspekt widmet, vernachlässigt es Ein­wände gegen diesen Befund. Derselbe Kritiker, der sich zur Urteilsins­tanz erklärt, hat sich damit allemal zugleich dazu verpflichtet und, will er als Kritiker bestehen, auch ausgebildet, Sensorium ästhetischer und kultureller Valenzen von Werken zu sein. Seine Subjektivität ist inso­fern auch eine(nicht einfach fahrlässige) Selbstobjektivierung. Zudem ist der Sprechgestus der Zeitungsseiten, die die Lizenz zu kommentie­ren haben, nicht in erster Linie ein deliberativer, sondern entschieden­demonstrativ. Adornos vielzitierte Bemerkung:»Was Benjamin sagte und schrieb, klang, als käme es aus dem Geheimnis. Seine Macht aber empfing es durch Evidenz.« 2 beschreibt diesen Gestus beunruhigend, weil auf bündige Weise. Endlich verfügt zumal Fontanes Theaterkritik sehr wohl über Kriterien. Es geht ihr, wie Frau Kaminski vermerkt(61 ff), um die Stimmigkeit der Zeichnung und Entwicklung von Dramen­Figuren und-Situationen.»Jedes Stück, das etwas Berechtigtes oder auch nur Zulässiges will, und mich durch seine Situationen und Cha­raktere von Anfang bis zu Ende zu fesseln weiß, ist in meinen Augen ein gutes Stück.« 3 Ebent! sagt man in Berlin. Innuendohaft, sprunghaft, unvollstän­dig, aber doch differenziert und aspektreich lassen Fontanes Kritiken seine Poetik durchblicken, seinen Blick für Figuren, Szenen, Dialoge, Handlungsführung. Diese Poetik ist realistisch in dem Sinne, den zu­letzt Christian Begemann verdeutlicht hat. 4 Sie erstrebt keine Eins-zu­Eins-Replik der Wirklichkeit, sondern deren sorgfältig gefilterte, aufs Wesentliche kondensierte, kunstgemäße, modellhaft Darstellung; nicht eine beliebige Photographie, sondern ein genau perspektiviertes und retouchiertes Bild. 5 Das Sprachkriterium, auf das die Arbeit abhebt, gerät dadurch nicht außer Kurs, aber es kommt in Korrelation mit dramaturgischen Überlegungen und solchen einer realistischen Dramenpoetik.»Die Birch hat keine ›schöne Sprache‹, aber die nicht-schöne Sprache‹ ist lange nicht das Schlimmste« 6 , schreibt Fontane in seiner unspektaku­lär-verblüffenden, nüchtern-lapidaren, nonchalanten, auf keineswegs