Heft 
(2016) 102
Seite
118
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118 Fontane Blätter 102 Rezensionen und Annotationen unfreundliche Weise unbestechlichen Art. Sie erweist sich als spröde gegenüber der statistischen Auswertung, mit der die Arbeit an den von ihr untersuchten Kritiken die Prozentanteile detaillierter Sprachanaly­se, nur kurzer Urteile über Sprache, undeutlicher Urteile über Stil, Ton und Ähnliches oder völliger Nicht-Berücksichtigung sprachlicher Mo­mente ermittelt(26, 50 f, 54, 64 u.ö.). Die Möglichkeit und der Erkennt­niswert solcher Verfahren sind im Zeitalter computerisierter Stilomet­rie und des von Franco Moretti betriebenen distant reading gegeben und schätzenswert. Der Detailteufel steckt aber in den methodischen Vorentscheidungen. Sie greifen hier nicht durchweg, weil die Arbeit aus dem Bewusstsein davon, dass sich Theaterkritik von Literaturkritik unterscheidet(47, 52 f, 61, 71, 100, 104 u. bes. 223), nicht die Konsequenz ableitet, das Kriterium der Nachvollziehbarkeit auf sprachlichen Stil ­bezogenener Kritikerurteile stärker zu relativieren. Theaterkritiker ­schreiben aber für eine Leserschaft, die zu erheblichen Teilen das auf der Bühne Gesehene entweder selbst gesehen hatte oder sehen wollen könnte, mithin für eine zeitgenössische, dem Bühnengeschehen im em­phatischen Sinn kopräsente Personengruppe. Was die Arbeit als irritie­rend knappes oder undeutliches Urteil bezeichnet, konnte dem damali­gen regelmäßigen Leser(32) genügen, während es erst dem heutigen Leser, der manchmal wie die Norminstanz dieser Arbeit(33 u. 79), eine Verständnishilfe zu verweigern scheint(58). Das Kerr-Kapitel folgt der guten Fährte, die auffälligen Züge von Kerrs Kritikersprache selbst hervorzuheben. Aus Rudolf Presber und dem von diesem bearbeiteten Calderón macht sie einen gewissen Pres­beron, aus einem deutschen Strindberg-Nachfolger einen Strindhügel, aus Brecht einen Autor von Baaladen, aus der Diktion des Schauspielers Max Pallenberg eine Ataxololalie(73, 78, 92 u. 96). Bekanntlich hat Kerr (seine) Kritik in eine Reihe mit den etablierten Gattungsregistern Lyrik, Epik und Dramatik gestellt. Den Kunstanspruch, den er ihr zuerkannte, sprach er der Theaterregie ab(109 u. 113). Es ist, als ob beide, Kritiker und Regisseur, um die zu entwendende Aura des Autors kämpften. Die statistische Auswertung, der die Arbeit auch die Kerrschen Kritiken unterzieht, stiftet hier indes das bemerkenswerte Resultat, dass nach dem Ersten Weltkrieg bei Kerr ästhetische Kriterien und Argumentati­onen zugunsten humanistisch-politischer, mithin zugunsten von Fra­gen der Gesinnung zurücktraten(bes. 88 ff., 101 u. 105). Das hat viel für sich und wäre in den Zusammenhang der Zeit-, Diskurs- und Theater­geschichte zu stellen. Nicht nur explodiert und verschärft sich die welt­anschauliche Auseinandersetzung nach 1917/18, sondern zumal das da­malige Theater ficht, mit Regisseuren und Autoren wie Jessner, Brecht, Toller und Piscator, für Republik und/oder Revolution. Insofern reagiert Kerr mit dieser Wendung auf die(nicht nur Theater-)Welt, von der er