Heft 
(2016) 102
Seite
119
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Nicole Kaminski: Literaturkritik ohne Sprachkritik? Fetscher 119 schreibt, und stellt sich dabei in die kritische Nachbarschaft seines nächsten Konkurrenten Herbert Jhering. Den gegenwärtigen Stand der Literaturkritik erforscht die Arbeit zuerst an einer in der Hamburger ZEIT erschienenen Reihe, die 1999 rückblickend die Bücher des 20. Jahrhunderts vorstellte(Kap. 5). Es sind untypische Kritiken, vielleicht eher Bekenntnisse und Charakte­ristiken, die mit Muße und aus einiger Distanz geschrieben wurden. Repräsentativer wirkt(Kap. 6) dagegen die Debatte um Günter Grass Roman Ein weites Feld(1995). Die spektakuläre Montage des SPIEGEL ­Titelbildes, auf dem Marcel Reich-Ranicki den Roman buchstäblich nicht nur ver-, sondern auch zerreißt, ließ Beobachter und Kombattan­ten von einem Literaturkrieg sprechen(143 u. 163–165). Das weite Feld wurde zum Schlachtfeld, und angesichts der noch nicht verwundenen Animositäten, die die deutschen Entwicklungen von 1989/90 gezeitigt hatten, geriet Sprachbewusstsein à la Fontane und natürlich auch das der Grass´schen Figur Fonty ins Hintertreffen. Gestützt auf zwei aus­führliche Dokumentationen der Debatte 7 kommt das Kapitel zu dem Schluss, in ihr hätten Kriterien politischer Sympathie stark in sprachäs­thetische Urteile hineingewirkt(147). So unabweisbar dieser Eindruck ist, wäre zu fragen, ob es bei der Beschaffenheit der Grassschen Provo­kationen und der Öffentlichkeit, auf die sie trafen, anders sein konnte. Was weder für die eine(Grass´ Simplifikationen) noch für die andere Seite(die Reflexe der Grass-Opponenten) sprechen mag. Mit Marcel Reich-Ranicki ist endlich der Kritiker aufgerufen, in dem man oft den letzten Nachfolger eines Kerrschen Literaturpontifi­kats sehen wollte. Die Autorin zeichnet seine Positionen noch einmal nach(Kap. 7–8): seinen parti pris für Exoterische, für eine Literaturkritik, die nicht mit dem Rücken zur Leserschaft agiert, sondern sich einem immer größeren, endlich auch einem Fernseh-Publikum zuwendet. Differenzierungen bezeichnen nur Halbschritte. An Nabokov rühmt der Kritiker die Sprache, aber gewiss auch die Unverblümtheit. Bei aller Präferenz für den Roman war ihm Lyrik nicht fremd, doch auch da schätze er Tucholsky(und Kästner höher als Hölderlin und Celan, könnte man anfügen). Als Anti-MRR präsentiert sich schließlich seit 2000 die von Sigrid Löffler geleitete Zeitschrift literaturen, die den Ab­stand zwischen ›normalen‹ und akademischen(literaturwissenschaft­lich instruierten) Lesern zu überbrücken strebt(Kap. 9). Weniger ver­trautes Gebiet beschreitet das letzte Interpretationskapitel der Arbeit (Kap. 10). Es rekonstruiert die vehemente Stilkritik des Außenseiters Karlheinz Deschner und seine Ein-Mann-Opposition gegen den Zu­stand der deutschen Nachkriegsliteratur. 8 Er kann für sich verbuchen, dass er Robert Musil und Hans Henny Jahnn zu schätzen wusste, als die lesende Öffentlichkeit sie kaum zur Kenntnis nahm. Die Stilkritik, die