Heft 
(2015) 100
Seite
12
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12 Fontane Blätter 100 Literaturgeschichtliches, Interpretationen, Kontexte »Das war ich?« Der deutsche Michel in Fontanes Jahrhundert Eda Sagarra Heutzutage ist seinen Landsleuten der deutsche Michel 1 als Begriff oder Fi­gur fast unbekannt. Und dennoch war er bis vor einer Generation in den Druckmedien, namentlich in der satirischen Graphik der Tagespresse, eine fast alltägliche Erscheinung und konnte auf eine jahrhundertlange Vorge­schichte zurückblicken. 2  Wie eine stehende Figur des europäischen Theaters hatte Michel während mehr als vier Jahrhunderten auf der Bühne der deutschen Geschichte immer wieder seinen Auftritt, stets zu Zeiten his­torischen Wandels 3  und mit unterschiedlicher Akzentsetzung. Im Vormärz erlebte Michel sozusagen seine Glanzzeit; er ist in der oppositionellen Tendenzdichtung, Journalistik und Graphik der vierziger Jahre in Berlin, Leipzig und überhaupt wo Menschen lebten auf Schritt und Tritt anzutreffen. Denn, wie Theodor Fontane ein halbes Leben später meinte,»mit dem Sommer 1840[...] brach für Preußen eine neue Zeit an«. 4  Wenn sich Fontane wohl zum Thema Nationalstereotypen 5 geäußert hat, so schien er vom ­Michel keine Notiz genommen zu haben 6 , im Gegensatz zu Heine oder so vielen gleichaltrigen Zeitgenossen wie etwa Franz Dingelstedt, Georg ­Herwegh oder Robert Prutz, oder gar seinem späteren Kollegen Ludwig Hesekiel. 7 Doch war der deutsche Michel als eine Art politische Ikone des 19. Jahrhunderts genau wie der politische Beobachter Fontane Produkt der Vormärzjahre. Die Umwälzungen der deutschen Geschichte seines Jahr­hunderts, die der Dichter wie kaum ein zweiter im Kunstwerk gestaltet hat, ließe sich an der Michelsgestalt verfolgen, nicht zuletzt an der seltsamen Metamorphose, die diese proteische Figur zwischen 1848/49 und Kaiserzeit durchmachte. Denn statt wie bisher in seinem langen Leben Ausdruck des Ungenügens der Deutschen an ihrer Geschichte zu artikulieren, fungiert Michel in der zweiten Jahrhunderthälfte im Zeichen des aufkommenden Nationalismus als Sinnbild deutscher Machtallüren und politischer Neu­rosen. Jedoch haftete auch diesem ›neuzeitlichen‹ Michel bzw. Michael nach wie vor jene existensielle Unsicherheit an, welche zumindest aus der Sicht