Heft 
(2015) 100
Seite
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»Das war ich?« Der deutsche Michel  Sagarra 13 Aussenstehender die Deutschen gegenüber ihrer neueren Geschichte so lang zu charakterisieren schien. Wer ist, wer war der deutsche Michel, wo kommt er eigentlich her? Lässt sein Name tatsächlich auf eine Verwandtschaft mit oder gar seine Herkunft vom deutschen Nationalheiligen, dem Erzengel Michael schlie­ßen, wie man früher annahm? Denn wenn Deutschlands Nachbarn sich ›achtbare‹ Märtyrer wie den Apostel Jakob(Spanien), oder Soldaten wie Georg(England, Russland und Katalonien) und Denis(Frankreich) zu Schutzheiligen wählten, fiel die Wahl des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation auf einen aus der höchsten Rangstufe der etwa seit dem 6.  Jahrhundert hierarchisch geordneten Engelscharen. Der himmlische Heerführer im Kampf gegen Gottes Widersacher Satan, Erzengel Michael,­  führte einen gewaltigen Namen: Wer ist wie Gott? 8 Das Wappen des Reichs war demgemäß der Adler, Erster unter den Vögeln. Die vielen Ortsnamen der deutschen Landschaften, die Kultstätten, Volksbräuche, Rei­me und Lieder sprachen von einer uralten Assoziation zwischen den germa­nischen Völkern und Michael: Im 8. Jahrhundert hat der angelsächsische Apostel der Deutschen Bonifatius nach missionarischem Gebrauch auf Kult­stätten des heidnischen Gottes Wotan Michelskirchen und –kapellen errich­ten lassen. 9 Ein Jahr vor seinem Tod im Jahr 814 ließ Kaiser Karl der Große auf dem Konzil zu Mainz das heidnische Erntefest am 29. September zum zusätzlichen Michaelstag bestimmen. 10 Nationalgesinnte deutsche Philo­logen und Historiker, die seit der Mitte des 19. Jahrhunderts dem Ursprung des Wortgebrauchs nachgingen, pflegten das kriegerische Element heraus­zustreichen. So schrieb programmatisch der Prager Germanist Adolf Hauf­fen in der ersten systematischen Geschichte der Michelfigur wie folgt: »Bei den Germanen und insbesonders bei den Deutschen genießt der oberste Erzengel von der Christianisierung an bis zur Gegenwart eine weit größere Verehrung und Beliebtheit als bei anderen Völkern, wohl haupt­sächlich aus dem Grunde, weil germanische Elben[!] mehrere Eigenschaf­ten mit Michaels Wesen teilen.« 11 Zu Beginn des 19. Jahrhunderts war davon allerdings wenig zu verspü­ren. Michel konnte zwar auf eine lange aber keine kontinuierliche Geschich­te zurückblicken. Seit der Reformationsepoche erscheint er gelegent­lich als geflügeltes Wort, stets im Sinn eines tölpelhaften oder naiv-b­­ eschränkten Menschen. So bezeichnet ihn der katholische Priester und nachmalige Lu­theraner Prediger Sebastian Franck in seinem erstmals 1541 zu Frankfurt a.M. erschienenen  Sprichwörter als»Ein grober Algewer bauer/ ein blinder Schwab[]/ ein rechter dum[m]er Jan/ Der teutsch Michel/ ein teutscher Baccalaureus«. 12 Seitdem und bis in die Bismarckzeit haftet der Figur dem ältesten der sog. ›Nationalstereotypen‹ ein Element des Minderwertigen an. Fast ein Jahrhundert später, als kriegerische Auseinandersetzungen