Heft 
(2015) 100
Seite
14
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14 Fontane Blätter 100 Literaturgeschichtliches, Interpretationen, Kontexte auf deutschem Boden eine Generation lang das Land verwüstet und frem­de Besatzungsheere mit deutschem Gut und Leib vorlieb genommen hat­ten, sahen 1634 die anonymen Verfasser der Flugschrift  Teutscher Achor  in eine trübe Zukunft. Deutsches Wesen, so klagten sie, werde in Bälde bis auf den Namen von der Erde verschwinden. War es das erste Anzeichen eines erwachenden Nationalgefühls oder eine gezielte Antwort auf jene Hiobsboten, auf alle Fälle begegnen wir um 1640 mehreren Michel-Texten. Offensichtlich wird die Gestalt hier als Instrument politischer Willens­bildung eingesetzt. Durch grobe Verzerrungen seiner angeblichen ›natio­nalen‹ Eigenschaften sollte nun der Deutsche zur Besinnung in Bezug auf das eigene Selbst gebracht werden. Mit ›Teutsch-Michel‹ hielt man sozusa­gen dem deutschen Volk sein Spiegelbild vor, damit er sich ändere. Statt dass man ihn, selbstgefällig wie beim späteren englischen John Bull oder in idealisierter Selbstüberhöhung wie im Fall von Frankreichs Marianne als Verkörperung vermeintlicher Leistungen des eigenen Volks in der Ge­schichte aufstellte, wählten jene frühen Chronisten des deutschen Selbst­verständnisses von vornherein die Karikatur als Mittel zum Zweck der Identitätsbildung. Die allegorische Gestalt der Nation bei den Engländern, Franzosen, Amerikanern, Niederländern etc. repräsentiert einen Idealty­pus, hingegen ist das Moment der Fremdbestimmung Wesenselement im Sinnbild der Deutschen. 13 Das gilt ebenfalls für die erste überlieferte bildliche Darstellung vom  Teutschen Michel aus Germania. Ein schön New Lied/ genannt der Teutsche Michel stellt einen modisch gekleideten Herrn dar und glossiert die Figur in fünfzig vierzeiligen Strophen mit Reimpaaren und vielen volkstümlichen Binnenreimen. Weit davon entfernt, den be­schlei­ften und befederten Stutzer mit der langen Haarsträhne und der brei­ten Halskrause als etwaiges Vorbild des neuzeitlichen Deut­schen darzu­bieten, lässt Michel bzw. der anonyme Autor seine Landsleute, die sklavisch die Fremden nachäfften, tüchtig verspotten. Der»New Teutsche« schmücke sich mit missverstandenen Sprachbrocken:»Welsch und Französisch/ halb Japonisch[...] Man tut sich reden/ als wie die Schweden«, klagt der Autor. Zornig rügt er am Schluss sein Volk:»Pfuy dich der schand[...] Sollt man euch Teutschen/ zum theil nicht peitschen/ Daß ihr die Muttersprach/ so wenig acht?« 14 Im Lauf der nächsten Jahre vertritt Michel weiterhin die Position der Sprachpuristen. Der bürgerliche Jurist und Sprachforscher Johann Michael­Moscherosch(1601–1669), in dem man den Autor der Flugschrift vom Teut­schen Michel vermutet, ergeht sich im Kapitel  A la Mode Kehraus  seiner im 17. Jahrhundert weit verbreiteten Satire  Visiones de Don Quevedo. Wunder­liche und Warhafftige Gesichte Philanders von Sittewalt  (Straßburg 1642) über die ›Sprachverderber‹ unter seinen Landsleuten:»Der Ehrliche ­Teutsche Michel hab euch Sprachverderbern[...] die teutsche Wahrheit gesagt«. 15  Diese rügte auch der vergnügte Menschenkenner und  Simplicissimus-Autor