»Das war ich?« Der deutsche Michel Sagarra 15 Hans Jakob Christoffel Grimmelshausen in seinem robusten Werk: Deß Weltberuffenen Simplicissimi Pralerey und Gepräng mit seinem Teutschen Michel (Nürnberg 1673), wobei er seine Landsleute vor dem anderen Extrem jener Sprachpuristen warnte, die sämtliche Lehnwörter aus der deutschen Sprache vertreiben wollten. Dass der Patriotismus bei den Deutschen an erster Stelle im Rahmen eines ausgeprägten Sprachbewusstseins zu verstehen sei, belegt der ehemalige Soldat and Autor des kunstvollen Liederbuchs Geharnischte Venus(Hamburg 1660) Caspar Stieler(1632– 1707). Im Klagelied des teutschen Michels aus seinem Zeitungs-Lust und Nutz(Hamburg 1695) gab der Wegbereiter des modernen deutschen Pressewesens die Lehnwörter seines Texts zusammen mit ihrem deutschen Äquivalent. 16 In der Folgezeit scheint Michel aus dem Volksgedächtnis zu verschwinden. Wohl enthält Johann Heinrich Zedlers Universal-Lexikon aller Wissenschaften und Künste einen historisch bemerkenswerten Hinweis auf den Namen Michel im Sinn von ›groß‹. 17 Sonst bringt das 18. Jahrhundert meist nur vereinzelte Erwähnungen des ›Vetter‹ Michels, darunter das Lied vom tölpischen Jungen: Gestern war Vetter Michel da, das bei Goethe wiederkehrt und im 19. Jahrhundert politische Aktualität gewinnen sollte. 18 Weder Größe noch Gestalt des deutschen Michel waren bisher besonders hervorgehoben worden. Eher ließ sein unbeholfenes Auftreten auf eine ungelenke oder einfach nicht ganz ausgewachsene Gestalt schließen. Zu Beginn seines wechselhaften Schicksals im 19. Jahrhundert bis zum Vormärz ist Michel gleichbedeutend mit dem politisch trägen deutschen Bürger. Ein gutmütiges, leicht aufgedunsenenes Philistergesicht blickt uns aus dem Titelbild der kurzlebigen Zeitung für Einsiedler entgegen, die im Juni 1808 unter der Leitung des Romantikers Achim von Arnim erschien. Über dem Ohr hängt der Zipfel der ab jetzt zeittypischen Michelschen Kopfbedeckung: seiner(Schlaf)Mütze. Im Geburtsjahr Theodor Fontanes drückte Ludwig Börne die Ungeduld seiner und der nachfolgenden liberaldenkenden Generation mit der offensichtlichen Unfähigkeit des deutschen Bürgers aus, das eigene Schicksal gestalten zu wollen. Dieser, so hieß es in der Ankündigung der Zeitschwingen, die im gleichen Jahr mit den repressiven Karlsbader Beschlüssen erschien, habe schlicht»zu wenig politische Au f k lä ru ng«: »Der denkende Teil des deutschen Volks wird sich bald wieder dem Studium ergeben – auf dem Bauch liegt er schon; und wenn ihn Rauch und Flamme und Krieg umgeben[...] sagt er ganz gelassen: ›Was geht’s mich an? Ich bekümmere mich nicht um Wirtschaftsangelegenheiten; das ist Sache meiner Regierung‹«. 19 Die 1830er Revolution, die Börne im Pariser Exil erlebte, brachte zunächst keine politische Erneuerung. Im Gegenteil: politische Repression und Zensurmaßnahmen wurden intensiviert. Dennoch sollte die erfolglose
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(2015) 100
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