Heft 
(2015) 100
Seite
160
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160 Fontane Blätter 100 Vermischtes machen­zwischen all den anderen Einbänden im rein historisierenden Stil? Leider wissen wir nicht, von wem der Einbandentwurf mit dem Schmetter­ling über einem Gebinde von Blütenzweigen gestaltet und ob er im Auftrag des Verlages speziell für den Roman Schach von Wuthenow in Auftrag ge­geben und geschaffen wurde. Von Blütenzweigen wird in Schach von Wuthenow nicht erzählt, auch nicht im Hochzeits-Kapitel. Kein»Haar bindet« in diesem Roman wie in Irrungen, Wirrungen 42 die Blumen und damit den Mann. Kein Schmetter­ling begegnet dem Leser, weder in Tempelhof noch in Wuthenow, weder in Paretz noch im Garten von Charlottenburg. Motten und Nacht falter sind es, die den Schlaf Schachs im heimatlichen Schloß Wuthenow unmöglich machen. Und der ihm insgeheim zugedachte kleine Veilchenstrauß fällt von ihm unbeachtet auf ein Kindergrab. 43 Geheimnisvoll und höchst subtil es mag zufällig, es mag absichtslos mit eingeflossen sein scheinen Victoire und Schach auf dem Bucheinband dennoch verborgen gegenwärtig zu sein. Die das Bild bestimmenden Myr­tenzweige symbolisieren im Volksglauben und in der Mythologie die Jung­fräulichkeit, und zwar nicht die Jungfräulichkeit an sich, sondern die in einer nach Erfüllung strebenden Liebe, den Brautstand, das sexuelle Ver­langen. 44 Sie erinnern an die Geburt der Aphrodite sowie an das verlorene, aber auch an das erhoffte Paradies. 45 Und so faßt zwar ein Rahmen dieses Motiv; zugleich aber legt sich dieses Motiv fast unbemerkt an einer Stel­le über den Rahmen, überschreitet und überwindet ihn, ohne ihn selbst anzutasten. Noch ein zweites befremdliches Element fällt ins Auge: Zu den Blüten der Myrte mit ihren fast kugeligen, unterständigen Fruchtknoten und überaus zahlreichen dicht an dicht sitzenden Staubgefäßen hat sich fein stilisiert die unscheinbarere Blüte einer Mirabelle gesellt. Als Mirabel­le nun charakterisiert Victoire sich selbst: 46 »Victoire Mirabeau de Carayon, oder sagen wir Mirabelle de Carayon, das klingt schön und unge­zwungen, und wenn ichs recht übersetze, so heißt es Wunderhold.« Dieser Blüte mit ihren zarten und hohen Staubfäden nähert sich wie zögernd und zugleich Abstand haltend ein Schmetterling. Noch hält ihn das Band. Rein äußerlich betrachtet mag der Schmetterling geradezu ein Sinnbild des von Blüte zu Blüte flatternden Menschen auf der Suche nach Liebe sein, eines Menschen, der sich zugleich aber nicht binden will und kann. 47 Tiefer ver­standen und eigentlich ist der Schmetterling schon im Volksglauben»wie kein anderes Tier als Erscheinungsform der Seele prädestiniert«, die sich wie aus der Puppe der Schmetterling aus dem»Leichnam« erst entwi­ckeln muß. 48 Und so wird er»in vielen Kinderliedern« als gebundenes und gelöstes Wesen»angesungen.« 49 Wie auch immer, die Einbandgestaltung der zweiten Buchauflage des Schach von Wuthenow kann zweifellos vielerlei Assoziationen evozieren.