44 Fontane Blätter 105 Literaturgeschichtliches, Interpretationen, Kontexte Reisefeuilleton zum Ort Saarmund im Band Spreeland mustergültig belegt. Aber gerade aus dieser vollumfänglichen Enttäuschungserfahrung entsteht ein poetischer Mehrwert, wie die Lektüre des Aufsatzes bezeugt. Die Aura einer längst vergangenen Epoche und das Fehlen schriftlicher Quellen schwebt um die Region, was sie zugleich zu den» Lieblingen märkisch-archäologischer Forschung« macht. 29 Fontane begibt sich auf eine poetische Suche nach den Spuren dieser Vergangenheit, zumal um Saarmund aufgrund seiner Lage und der einstigen historischen Bebauung mit den Burgen entlang der Nuthe ein» gefällig-romantischer Klang« schwebe. Die gemächlich fließende Nuthe» breitet ihren Einsamkeitszauber über die sie begleitenden, endlosen Wiesengründe« 30 aus. Leserinnen und Leser sind also eingestimmt und folgen dem Wanderer, der sich einer historischen Landschaft nähert, dessen regionale Kulturgeschichte er aufspüren möchte. Diese ist jedoch als solche kaum oder gar nicht erkennbar und selbst den Bewohnern nicht mehr bekannt. 31 Und bereits bei der Einfahrt ins Dorf schlägt die Stimmung um:» Nichts Lebendes[…] und nichts Abgestorbneres und Stilleres als Saarmund«. 32 Fontane kommt im Ortskern rasch zu folgendem Ergebnis: » Der Eindruck des Öden, den die ganze Stadt macht, an dieser Stelle steigert er sich, denn hier war einmal Leben. Unter den Fenstern des ersten Stockes hin ziehen sich lange Wirtshausschilder: ›Stadt Halle‹, ›Stadt Leipzig‹, die sich fast wie Grabschriften lesen über einer Zeit, die nicht mehr ist. Hier führte vor fünfzig oder hundert Jahren die große Straße von Sachsen vorüber, hier war ein Hauptzollamt, und Saarmund hatte damals eine Bedeutung etwa wie Wittenberge heut oder irgend sonst ein Platz, an dem der Koffer untersucht und die Sprache des deutschen Biedermannes in der Maut- und Zollnuance gesprochen wird. Das ist nun alles dahin. Die geschlossenen Fenster zeigen nichts mehr als lange Rouleaux, deren in der Schräge schwebende Landschaften auf ein völlig gestörtes Roll- und Räderwerk deuten; alle Krippen stehen leer, und müde vom Warten, haben sie sich an die Wand gelehnt. Die Hühner picken drum herum. Wo sie´s hernehmen, Gott weiß«. 33 Die vorhandene materielle Kultur bezeugt also nicht das Historische, sondern dessen Abwesenheit. Das gesuchte Erinnern wird so zu einer ambivalenten Erfahrung. Über die mittelalterlichen Burgen – der Anlass seiner Reise – erfährt Fontane vor Ort nichts, selbst die Geschichte ist hier materiell und mental in Vergessenheit geraten. Als er einen Einwohner über die Nutheburgen befragt und der Befragte schnell offenbart, dass » dieses Wort mit dem balladesken Doppel-U zum ersten Male sein Ohr traf«, 34 wird deutlich, dass in Saarmund keinerlei Kenntnisse mehr über dessen mittelalterliche Vergangenheit vorhanden sind. Fontane kommt zu dem Schluss, Saarmund sei» einer der vielen Orte, die nicht leben und nicht sterben können und nur dazu da sind, im Herzen eines Vorüberfahrenden
Heft  
(2018) 105
Seite
44
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