Heft 
(2018) 105
Seite
53
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»Im Übrigen ist alles hinüber« Ritter 53 Die toten Vögel sind beredtes Zeugnis dieser abschreckenden Erfahrung einer Enttäuschung, die auch vor dem wenigen noch erhaltenen Inventar nicht Halt macht. Die Porträts in den Sälen korrespondieren mit dem Ein­druck des Hauses:» Das Mildeste, was man von ihnen sagen kann, ist: sie verleugnen die Stunde ihres Ursprungs nicht. Freilich haben auch sie ihre Verehrer gefunden«. 76 Nicht nur in Kossenblatt, in zahlreichen Herrenhäusern und Kirchen bekommt Fontane auf seinen Reisen alte, fleckige, groteske Bilder zu Ge­sicht, und seine Seherfahrungen finden in allen Bänden der Wanderungen Niederschlag. Es zeigt sich, dass die Seherwartung an Orten mit vermeint­lich kunsthistorischen Objekten wie Porträts besonders sensibel ist. Bilder sind mehr als Repräsentationen oder Stellvertreter unseres Blickes; sie be­sitzen ein hohes Potential medialer, semantischer und historischer Eigen­dynamik. Dass Bilder Wahrnehmung und Verhalten beeinflussen und die Beziehung von Bild und Betrachter komplex sein kann, ist nicht erst seit den Arbeiten William J. T. Mitchells zum pictorial turn, Gottfried Boehms zum iconic turn, Hans Beltings zur Bildanthropologie oder Horst Brede­kamps zum Bildakt bekannt. 77 Was die neueren bildtheoretischen Arbeiten aufzeigen, die allesamt die eigenständige Entität des Bildes, seine Wirk­macht von und auf den Betrachter neu positionieren, darin die Vernetzun­gen zwischen Bild, materiellem Medium und menschlichem Blick und Han­deln mit Artefakten in den Mittelpunkt stellen, antizipiert bereits Fontane, indem er Sensibilität dafür zeigt, dass Formen des Betrachtens ein ebenso tiefgreifendes Problem darstellen können wie Formen des Lesens vom Ent­ziffern bis zum Interpretieren. In Werder an der Havel im Band Havelland (1873) empfindet der Wanderer das ehemalige Altargemälde mit dem be­zeichnenden Namen» Christus als Apotheker« als ästhetisch derart ab­norm und singulär, sodass er bezüglich der Datierungsfrage zu dem Schluss kommt, dass» die katholische Zeit solche Geschmacklosigkeiten nicht gekannt« habe. 78 Im Kapitel Lehnin im selben Band spürt er sogar ein » Unbehagen über die Häßlichkeit der Darstellung«. 79 Dieses Unbehagen tritt in seiner ganzen Wirkmacht im Roman Vor dem Sturm auf. Zunächst ist es Kathinka Ladalinski, die während des Besuchs der Ruinen von Kloster Lehnin von der Hässlichkeit der Bilder angewidert ist. 80 Eine noch deutlichere Wirkmacht überkommt ihren Vater, Geheimrat Ladalinski, beim Besuch der Bohlsdorfer Kirche: »In der Kirche war alles öde[]. Ein scharfes Seitenlicht fiel auf das Altarbild.[] Es war ein häßliches Bild aus der Mitte des vorigen Jahrhun­derts, am häßlichsten die Magdalena. Sie trug ein hohes Toupet von rot­blondem Haar, in das große Perlen eingeflochten waren. Der Ausdruck sinnlich und roh. Den Geheimrat verdroß es; er wandte sich ab und suchte nach einem Platz in der Kirche, der ihm Sicherheit vor diesem Anblick ge­währen mochte«. 81