Rogerowski oder Rasumofsky? Arand 61 Rogerowski oder Rasumofsky? Überlegungen zur nationalen ›Meistererzählung‹ in Fontanes Kriegsgefangen Tobias Arand Am 27. September 1870 verlässt Theodor Fontane mit dem Zug Berlin. Sein Verleger Rudolf von Decker hat ihn im August des Jahres gebeten, nach seinem Buch über die Kämpfe gegen Dänemark 1864 und dem noch in Arbeit befindlichen Werk über den Deutschen Krieg von 1866 eine weitere Militärschrift, nun über den soeben begonnenen Deutsch-Französischen Krieg, zu verfassen. Erst ziert sich der Schriftsteller, doch nach einigen Verhandlungen erklärt er sich zu einem dritten Buch bereit. Als echter Journalist reist Fontane an die Front, um sich ein eigenes Bild über die Kämpfe zu machen, und erreicht am 4. Oktober nach einer Fahrt mit wechselnden Truppenzügen über Frankfurt, Mannheim und Nancy das Städtchen Toul in Nordostfrankreich. Auf dem Weg hat er die noch frischen Kampfstätten von Weißenburg und Wörth 1 im Elsaß besucht, auf denen am 4. und 6. August 1870 äußerst brutale Schlachten getobt haben. Von Toul reist der geschichtsbeflissene Bildungsbürger am 5. Oktober mit einer Kutsche ins nur wenige Kilometer entfernte Örtchen Domrémy, um sich das Geburtshaus der Jeanne d’Arc anzuschauen und den genius loci der ›Pucelle‹ zu erspüren. Anders als das von deutschen Truppen besetzte Toul ist Domrémy jedoch noch in französischer Hand, und der etwas leichtfertige Fontane wird von ›Franctireurs‹[›Freischützen‹] als vermeintlicher preußischer Spion festgenommen. Die der Festnahme folgenden, angstvollen und strapaziösen Erlebnisse als Gefangener in wechselnden Festungen beschreibt Fontane in seinem Buch Kriegsgefangen – Erlebtes 1870, das er noch während der Haft in weiten Zügen vollendet. Es erscheint bereits Ende 1870 als periodischer Vorabdruck in der Vossischen Zeitung und dann 1871 gebunden bei Deckers Königlich Geheimer Ober-Hofbuchdruckerei. Anders als in seinen Romanen schildert Fontane hier keine fiktiven Ereignisse erfundener Menschen, sondern tatsächlich Erlebtes, wenngleich in erzählerischer Form und mit noch zu diskutierendem Wahrheitsgehalt. Der Schriftsteller berichtet von
Heft
(2018) 105
Seite
61
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