62 Fontane Blätter 105 Literaturgeschichtliches, Interpretationen, Kontexte seinen Gefühlen und Gedanken, von den Haftbedingungen und den Menschen, denen er während der gefahrvollen Wochen begegnet. Fontanes Buch ist so ein Erlebnisbericht, der allerdings in einem ironischen Plauderton verfasst ist und der viele Ereignisse wie Personen in starker Literarisierung darstellt. Dieser literarischen Überformung und Stoffanordnung mag es geschuldet sein, dass die hinter den zuweilen überzeichneten ›Figuren‹ dennoch einstmals existenten realen Personen in der Fontane-Forschung kein sonderliches Interesse gefunden haben bzw. sie nur vereinzelt in den Fußnoten kommentierter Ausgaben ein unbeachtetes Dasein als Randnotizen fristen. So verweist z.B. John Osborne in seiner Studie zum Frühwerk Fontanes Vor den Romanen auf diese Personen und darauf, dass sich in einigen Fällen»ihre Spuren im außertextlichen Raum verfolgen« ließen, interessiert sich dann jedoch für sie nur als literarische Figuren und Vorlagen für spätere Bücher des Schriftstellers. 2 Dies ist umso erstaunlicher, als sich über einige dieser Personen mit einfach zugänglichen historischen Quellen durchaus Angaben machen lassen und gerade die Beschäftigung mit den ›realen Schatten‹ hinter den literarischen Fassaden den Grad der schriftstellerischen Formung der Ereignisse und Figuren durch Fontane zu verdeutlichen vermag. Zugleich gibt Fontanes Darstellung dieser Personen aber auch Aufschluss über den Grad der Einbindung von Kriegsgefangen in ein übergeordnetes nationales Narrativ des Krieges der Jahre 1870/71. Als Fontane am 9. November 1870 auf Oléron vor der französischen Atlantikküste in Festungshaft gesetzt wird und dort nach einer vierwöchigen Odyssee durch die unbesetzten Provinzen endlich seinen letzten Bestimmungsort während der Gefangenschaft erreicht, erhält er Gesellschaft einiger Mitgefangener. Diese Leidensgenossen benennt der Schriftsteller abgesehen von einigen Ausnahmen mit Klarnamen und überwiegend eindeutiger Zuordnung zu einer militärischen Einheit. Interessant sind diese Mitgefangenen für Fontane einmal als seelische Stützen in einer als Bedrängnis empfundenen Situation, als Studienobjekte aus einer leicht gönnerhaften Position heraus, vor allem aber als erzählende Ideengeber im Kontext seiner literarischen Absichten in Kriegsgefangen. Diese Mitgefangenen erzählen Fontane von ihren Kriegsabenteuern und der Schriftsteller verwandelt ihre Berichte so dankbar wie professionell in anekdotische Literatur. Diese Personen wie ›Sergeant Polzin‹ oder der ›Bursche Rasumofsky‹ sollen im Folgenden im Mittelpunkt stehen, indem skizzenhaft etwas über die Umstände ihrer Gefangennahme, die Hintergründe ihrer durch Fontane übermittelten Erlebnisse und die weiteren historischen Zusammenhänge mitgeteilt wird. Vielleicht kann so ein ganz kleines Detail im wahrhaft ›weiten Feld‹ der Fontane-Forschung erhellt werden.
Heft
(2018) 105
Seite
62
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