Heft 
(2018) 105
Seite
139
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»Sehnsucht nach Prag« Für Helmuth Nürnberger  Delf von Wolzogen 139 büßten. Was ich meine, hat mit diesen Briefen zu tun, meint aber mehr als ihren Text. Denn sie waren stets mehr als dieser. Ich möchte sie ein ­sprachliches Ereignis nennen, in dem uns der Sprecher als zugleich präsent und von weither kommend erscheint. So, als würde sprechend ein Raum konstituiert, in den man eintreten konnte, oder auch nicht, der aber keines­falls nur das Hier und Jetzt umfasste, sondern stets die Möglichkeit eines Anderswo mitdachte oder mitsprach, denn Helmuth Nürnberger war, was ich einen Sprachdenker nennen möchte. »Sehnsucht nach Prag« wäre insofern auch als eine Art Topographie zu verstehen, die nicht nur eine, die auch andere Welten kennt, verlorene oder ersehnte Welten. Seine Sätze vermochten es, dem Hier und Jetzt zuweilen ein fast mär­chenhaftes Licht aufzusetzen, so als wäre ein prähistorischer böhmischer König oder eine böhmische Quade Foelke anwesend im Gesagten, die einen in Bann schlagen oder an die Brüchigkeit mancher Wahrheit gemahnen konnten. Wer mit Helmuth Nürnberger korrespondierte, befand sich im­mer auf doppeltem Boden, auf dem Resonanzboden tanzender Worte. ».. . indes wie immer(›immer‹ klingt lang, aber die Zeit vergeht so schnell). Ihr H. N.« Nachdenkliche Wendungen, wortspielerische Skepsis, ja komische Ele­mente wechselten leichtfüßig, nahmen den manchmal sehr ernsten Dingen, die zur Sprache gebracht werden mussten, ihre Schwere, aber nicht ihren Ernst. »›Wie immer‹ d. h., genauer gesagt, alles lässt nach, nur die Wahrneh­mung der komischen Elemente in den Erscheinungen nimmt zu. Ihr H. N.« Fast könnte man sagen,»apodiktisch« sei ein Fremdwort gewesen in Helmuth Nürnbergers Wortschatz, seine Wahrheiten kamen niemals nackt daher. Ein durchaus kritischer Brief an die Herausgeber der Fontane Blätter konnte so enden:»Aber genug und schon zuviel, denn es besteht grundsätz­lich kein Dissenz. Außerdem: Heute erhielt ich das Protokoll der letzten Bei­ratssitzung. Wie sollte ich nicht geneigt sein, das Urteil des Beirats unge­mein treffsicher, ach, geradezu vorzüglich zu finden.« Als es eines Tages schien, als könne nur das Beten von Novenen noch helfen, fand er eine tröstend schmunzelnde Episode aus seiner Kindheit: »In meiner Volksschulzeit war das anders: Der junge Herr Katechet(vom Prager Kreuzherrenorden mit dem roten Stern, auch Karl Postl gehörte dorthin, der dann als Charles Sealsfield nach Amerika durchging) rief mich gar nicht mehr auf, reagierte auch nicht, wenn ich mich meldete, so dass ich zuletzt meinen Vater bat, mal nachzufragen, ob ich denn gar so schlecht sei. Aber nein, sagte der Herr Katechet, das ist ja eine Eins wie eine Kirchturm­spitze. Wunderbar. Leider ist er dann auch durchgegangen, erst hatte er eine ›Flamme‹, dann kam er nicht mehr, zuletzt hieß es, er habe geheiratet.