»Sehnsucht nach Prag« – Für Helmuth Nürnberger Delf von Wolzogen 141 schön gesagt hat: ›Ich habe das 20. Jahrhundert überlebt.‹ Und nun? Fürs 21. braucht man sogar Passwörter!« Und, wiederum an die Herausgeber der Fontane Blätter:»... das jüngste Protokoll betreffend, in dem ich mich so freundlich gelobt fand, was mir wichtiger ist als alle Wissenschaft, ein lesbarer Stil.« Was er hier als Stil anspricht, war für Helmuth Nürnberger mehr als modus scribendi, nicht nur Kleid des Gedankens(»dress of thought«) und »Physiognomie des Geistes« im Schopenhauerschen Sinne, für ihn war der »lesbare Stil« eine Denkungsart und wesentlicher noch eine Lebens-Haltung, und hier an diesem Punkt kam er wohl seinem ersten Helden, dem »wackeren Preußen« Fontane am nächsten. In einer Sprache, die das Wandern zwischen den Welten, zwischen den Erfahrungen ermöglicht. Eine Sprache, die diesseits und jenseits kennt, weiß auch von der»Sehnsucht nach Prag«. Stil und Moral überlagern sich in diesem Punkt. Für Helmuth Nürnberger war Stil eine praktische Frage, eine Utopie, die es in die Sprache verschlagen hatte, und eine zutiefst humane Sache. In den Briefen der letzten Jahre erscheint jene»Sehnsucht nach Prag« gelegentlich auch als Sehnsucht nach der geistigen Landschaft der Kindheit, denn auch diese lebensgeschichtliche Dimension meint ja die»Sehnsucht nach Prag«: ».. . Ich selbst lehne mich, wie gewünscht, entspannt zurück, das graue Nebel-Regen-Gemisch hierzulande lässt momentan auch gar nichts zu als lesen. Fontane reicht, um meine Winterdepression auszukosten, allerdings nicht ganz aus. Schnitzler, ›Der Weg ins Freie‹ ist da besser...« Und als es um die Anthologie seiner weniger bekannten Aufsätze ging, die er sich wünschte, trafen folgende Sätze ein:»Zu dessen Erheiterung noch eine Episode, die ich meinen kürzlich unverhofften Max Brod-Studien verdanke. Kafkas erstes Buch ist erschienen, er berichtet seinem Freund, dass er sich in dem führenden Geschäft nach dem Erfolg erkundigt habe. Elf Exemplare seien verkauft worden, zehn hatte er selbst bestellt, nun sei er brennend interessiert, wer der Erwerber des elften sei.« Bei unserem Symposium»Formen ins Offene« wollte Helmuth Nürnberger über nicht erzählte, aber in den Romanen Fontanes angelegte Erzählungen sprechen, als Form, die ins strukturelle Jenseits des Textes führt. Dazu kam es nicht mehr. Helmuth Nürnberger musste absagen, aus gesundheitlichen Gründen, aber nicht diese ließ er gelten. Sein Brief ist eine wahre Anklageschrift gegen sich selbst, ein»Warum habe ich nicht...«, die mit einer Landschaftsutopie endet: ».. . welch ein verqueres Ungeheuer, das immer nur die Literatur im Kopf hat, warum fahre ich nicht, wenn ich schon ein Ungeheuer bin, eine Woche in die julischen Alpen zu den dortigen Bären, nach denen ich mich sehne (nach den Alpen, nicht nach den Bären), denn das sind feste Kindheitsbindungen und ich habe seit einem Dutzend Jahren keinen Berg mehr gesehen
Heft
(2018) 105
Seite
141
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