Heft 
(2018) 106
Seite
39
Einzelbild herunterladen

Fontane in der zeitgenössischen österreichischen Presse  Rasch 39 Neue Freie Presse. Wien. Nr. 5897, 28. Januar 1881, Abendblatt, S. 4 Neue Novellen.[Darin:]»Gr e t e M i n d e« [] Im Gegensatze zu Homberger, der seine Stoffe nur auf italienischem Boden pflückt, führt uns Theodor Fo n t a n e in die deutsche Vergangenheit. Sein neues Buch ist, wie er versichert, nach einer altmärkischen Chronik gear­beitet, und ohne daß es deren Erzählungsweise copirte, waltet darin eine ungemein schlichte Einfachheit, die uns aber das Ergebniß einer sorgfälti­gen Kunst scheint.»Grete Minde« heißt die Geschichte, die gegen Ende des sechzehnten Jahrhunderts in Tangermünde spielt und das traurige Ge­schick zweier Nachbarskinder schildert. Sie lieben sich, ehe sie es selbst wissen, lieben sich, weil ihre Herzen nach Liebe dürsten und Beide der zärtlichen Mutter entbehren. Als sie herangewachsen, entfliehen sie zu­sammen. Wir treffen sie nach drei Jahren wieder bei wandernden Comödi­anten. Grete kehrt, als ihr geliebter Valtin gestorben, mit ihrem kleinen Kinde auf dem Arme nach Tangermünde zurück und wirft sich ihrem Bru­der Gerdt zu Füßen. Der stößt sie von sich, verweigert ihr auch ihr Erbtheil. Da erfaßt Grete, die ihrer spanischen Mutter heißes Blut geerbt hat, wahn­sinnige Wuth, und sie steckt die Stadt in Brand. In der allgemeinen Verwir­rung eilt sie nach des Bruders Haus, reißt dessen Knaben von der Mutter weg, klettert mit ihm auf den Thurm der Hauptkirche, und vor den Augen Gerdts, dem sie sein Kind von der Höhe herab zeigt, geht sie nebst ihrem Opfer in den Flammen zu Grunde. Ein gräßliches Ende nach dem fast idyl­lischen Anfange, doch künstlerisch wohl begründet. Die Novelle hat einen starken, rauhen Zug und ist nicht für empfindsame Seelchen geschrieben; aber sie besitzt den großen Vorzug der inneren Wahrheit und culturhisto­rischen Treue. Ich möchte sie für das Beste erklären, was aus Fontanes Feder geflossen, und mehr als einmal mußte ich, während ich das Büchlein las, der Lieder von den zwei Nachbarskindern gedenken, die so wehmüthig ausklingen:»Sie sind verdorben, gestorben.« Durch Fontanes Erzählung weht ein Hauch echt volksthümlichen Geistes. [] K. v. Th.