46 Fontane Blätter 106 Literaturgeschichtliches, Interpretationen, Kontexte Abb. 1–3. Die»Heilige Jungfrau im Kirchenbanner« von Hohen-Vietz soll Dorf und Schloss gegen die vordringenden Hussiten geschützt haben und im nahen Kirch-Göritz verehrten die Wallfahrer zweihundert Jahre lang»ein wundertätiges Marienbild«. Die Pilger erwarben an den Wallfahrtsorten Pilgerzeichen, die sie auf sich trugen oder an den Hut steckten, um mit dem Gnadenbild körperlich in Verbindung zu bleiben. Die heiligen Bilder und wundertätigen Gegenstände lösten sich aber nach der Reformation nicht einfach in Nichts auf. Sie wirkten in den katholischen Gebieten weiter und einige sogar unter Protestanten. Selbst Ungläubige sind nicht frei vom christlichen ›Aberglauben‹, wie das Beispiel des Grafen Petöfy zeigt.»›Sieh, ich glaub‘ eigentlich nichts und überlaß es meiner Schwester-Gräfin, mich aus dem Fegfeuer oder auch noch von wo andersher freizubeten‹« 9 , erklärt der agnostische Graf seiner jungen Gattin Franziska. Seine ›Schwester-Gräfin‹ ist eine Katholikin der besonders strengen Observanz, und während der Salon des Grafen mit Ikonen der Theaterwelt volltapeziert ist, finden sich im Wiener Zimmer der Gräfin ausschließlich Gemälde mit biblischen Themen und über»einer kleinen blauen Flamme« hängt der »Lieblingsheilige, der heilige Florian« 10 . Florian ist ein christlicher Märtyrer der Römerzeit und der Schutzpatron Oberösterreichs. Die Legende erzählt, dass der römische Amtsvorsteher zum Christen wurde und selbst unter schwerster Folter nicht abschwor. Mit einem Stein um den Hals wurde er in die Enns geworfen. Dann wurde Florians Leiche aber von einer Welle an Land gespült, und während des Begräbniszugs soll am Weg eine Quelle entstanden sein, damit sich die Ochsen, die den toten Märtyrer trugen, daran laben konnten. Diese Quelle wurde später ein Ort vieler Wunderheilungen. Für die ›Schwester-Gräfin‹ ist aber vor allem die unglaubliche Glaubensfestigkeit des Nothelfers ein Wunder und ein Beispiel, das sie stets vor Augen hat. 11 An solche Dinge glaubt ihr Bruder überhaupt nicht. Und doch, so viel muss er seiner jungen Frau gegenüber zugeben,
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(2018) 106
Seite
46
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