Heft 
(2018) 106
Seite
56
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56 Fontane Blätter 106 Literaturgeschichtliches, Interpretationen, Kontexte Effi und der Chinese Die omnipräsente ›weiße Frau‹ begegnet auch Effi Briest, als diese frisch verheiratet, allein und ziemlich bedrückt im unheimlichen Kessiner Haus sitzt und zur Zerstreuung in einem Reisehandbuch blättert. Dabei stößt sie auf Seite 153 ganz zufällig auf die Beschreibung»der ›Eremitage‹, dem be­kannten markgräflichen Lustschloß in der Nähe von Bayreuth«. Das lockt sie»Bayreuth, Richard Wagner«, sehr interessant, und unter den Abbil­dungen weckt»ein stark nachgedunkeltes Frauenporträt, kleiner Kopf, mit herben, etwas unheimlichen Gesichtszügen und einer Halskrause, die den Kopf zu tragen scheint«, ihr Interesse. Aus dem Handbuch erfährt Effi, was wir schon von Hohen-Ziesar her wissen:»›Einige meinen, es sei eine alte Markgräfin aus dem Ende des fünfzehnten Jahrhunderts, andere sind der Ansicht, es sei die Gräfin von Orlamünde; darin aber sind beide einig, daß es das Bildnis der Dame sei, die seither in der Geschichte der Hohenzollern unter dem Namen der ›weißen Frau‹ eine gewisse Berühmtheit erlangt hat.« Außerdem vernehmen wir aus Effis Lektüre, dass»›ebendies alte Por­trät(dessen Original in der Hohenzollernschen Familiengeschichte solche Rolle spielt) als Bild auch eine Rolle in der Spezialgeschichte des Schlosses Eremitage‹« spiele, was wohl damit zusammenhängt, daß es an einer dem Fremden un­sichtbaren Tapetentür hängt, hinter der sich eine vom Souterrain her hinaufführende Treppe befindet. Es heißt, daß, als Napoleon hier über­nachtete, die ›weiße Frau‹ aus dem Rahmen herausgetreten und auf sein Bett zugeschritten sei. Der Kaiser, entsetzt auffahrend, habe nach sei­nem Adjutanten gerufen und bis an sein Lebensende mit Entrüstung von diesem ›maudit château‹ gesprochen. 43 Jemand musste damals von der Geheimtreppe aus die Tapetentür bewegt haben und der mächtigste Despot der damaligen Zeit, der mit allen takti­schen Tricks ausgestattete Feldherr nahm vor dem simplen Budenzauber Reißaus. Das geschah im Mai 1812, als Napoleon nach Russland unterwegs war. Aber eigentlich möchte Effi solche Dinge in ihrem momentanen Zustand gar nicht erfahren.»›Das hab ich gut getroffen‹«, tadelt sie sich,»›ich will mir die Nerven beruhigen, und das erste, was ich lese, ist die Geschichte von der weißen Frau, vor der ich mich gefürchtet habe, so lang´ ich denken kann.« 44 Effis Angstpegel ist nämlich schon hoch genug. Seit einiger Zeit plagt sie die Vorstellung, im Kessiner Haus gehe es nicht mit rechten Dingen zu. Der phantastisch eingerichtete Hausflur mit dem ausgestopften Haifisch und dem Krokodil hat nur beim ersten Anblick einen gewissen exotischen Reiz ausgeübt, dann wurden Effi die wilden Tiere unheimlich. Und dass das merkwürdige Geräusch, das sie nachts aufschreckt, bloß von den dicken