Heft 
(2018) 106
Seite
58
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58 Fontane Blätter 106 Literaturgeschichtliches, Interpretationen, Kontexte Welt wusste sie nichts. In ihrem neuen Leben als blutjunge Ehefrau fühlt sie sich nun ziemlich hilflos; selbständig und erwachsen ist sie noch nicht ge­worden. Ihr Gatte Innstetten, der vor zwanzig Jahren bereits um ihre Mut­ter geworben hat, macht Karriere im Dunstkreis Bismarcks. Ihn kann sie nicht in Frage stellen, ihn nennt ihn zuweilen ›Herr‹. Das Fibelbildchen im Dachzimmer weckt Effis Misstrauen, denn bereits auf der Fahrt nach Kessin hat sie von einem geheimnisvollen Chinesen er­fahren, der in Kessin gelebt haben soll. Müde und nervös hat sie damals im Bahncoupé gesessen und in der Dämmerung auf das gespenstige Haff ge­blickt, als ihr Mann begann, das abgelegene Kessin als exotischen Ort aus­zumalen, wo es einen wilden Kerl und Piraten gebe»›der war Seeräuber unter den Schwarzflaggen‹« 46 und wo ein Kapitän Thomsen gelebt habe, in dessen Diensten ein Chinese gestanden sei. Der sei aber schon lange tot, sein Grab liege»›zwischen den Dünen, bloß Strandhafer drum ´rum und dann und wann ein paar Immortellen‹« 47 . Effi wehrte ab, ein Chinese habe »›immer was Gruseliges‹« 48 , mehr wolle sie lieber nicht erfahren, sonst habe sie in der Nacht»›immer gleich Visionen und Träume‹«. Dabei hatte sie sich eben noch voll kindlicher Angstlust erkundigt, ob es denn in der kleinen Welt von Kessin nicht»›allerlei Exotisches‹« gebe,»›vielleicht einen Neger, oder einen Türken, oder vielleicht sogar einen Chinesen‹« 49 . Der ›Chinese‹, der»›immer was Gruseliges‹« an sich hat, ist 1878 im Jahr, als Effi verheiratet wird und nach Kessin zieht, ein politisches Ge­spenst. Der ›Chinese‹ hat den ›Neger‹ und den ›Türken‹ als Schreckbild ab­gelöst. In jenen Jahren wurde ›der Chinese‹ zum Inbegriff des bedrohli­chen Ameisenmenschen fleißig, fatalistisch, verschlagen und immer bestrebt, die Europäer zu betrügen. Im 18. Jahrhundert war China noch groß in Mode gewesen und ›der Chinese‹ für eine besonders verfeinerte Kultur gestanden. Die reichen Europäer waren scharf auf Seidengewänder und delikates Porzellan. Ab 1838 stand Europa dann aber im Krieg mit dem alten Kaiserreich, die Großmächte zwangen China ihre wirtschaftlichen Regeln auf und nahmen dem Land wichtige Küstengebiete weg. Auch das junge Deutsche Reich wollte sich an diesem Raubzug beteiligen, weshalb Literaten, Journalisten und Politiker in der Öffentlichkeit das Schreckbild der»gelben Bestien« 50 aufrichteten, die»in Millionen-Horden gegen Wes­ten« 51 zögen. Dieses Bild hat sich in den Köpfen der Leute festgesetzt. Ein Widerschein dieses Schreckbilds fällt auch auf das Fibelbildchen im Kessiner Dachzimmer. Dass der Seeräuberkapitän Thomsen und sein Chi­nese vor Jahren in ihrem jetzigen Zuhause gelebt haben, beunruhigt Effi sehr. Das Unheimliche, das sie um sich spürt, rückt ihr in diesem Bildchen ganz nah. Und auch die Geschichte von der Enkelin des Kapitäns ängstigt sie: Diese Enkelin habe an ihrem Hochzeitsfest»›zuletzt auch mit dem Chi­nesen‹« getanzt, wird erzählt, und dann habe es mit einemmal geheißen, »›sie sei fort, die Braut nämlich. Und sie war auch wirklich fort, irgend wo-