Gretes Amulett und Effis Chinese Wegmann 59 hin, und niemand weiß, was da vorgefallen. Und nach vierzehn Tagen starb der Chinese‹« 52 – diese Geschichte macht das neue Kessiner Heim endgültig zum Spukhaus und das Bild des Chinesen zum Kern eines Angstsyndroms. Fontane und einige seiner Figuren wussten sehr genau, dass die enge Verbindung von Geschichten und Bildern die stärksten Energien und Wirkungen erzeugen kann, wohltuende und schreckliche. Mit dem Bild der ›weißen Frau‹ im Kopf geht Effi nach der Lektüre des Reisehandbuchs zu Bett, fährt aber bald»mit einem lauten Schrei aus ihrem Schlafe auf«, hört erwachend das Echo ihres Schreis, und als der Hund Rollo draußen anschlägt,»dumpf und selber beinah ängstlich«, ist ihr,»als ob ihr das Herz stillstände« 53 , sie kann nicht rufen und spürt, wie etwas an ihr vorbeihuscht und die Zimmertür aufspringt. Dann kommen Rollo und das Dienstmädchen Johanna herein, es wird hell und langsam weicht der Horror. Wie die meisten Leser erklärt sich Effi das unheimliche Erlebnis damit, »›daß es ein Albdruck war‹«, und beruhigt sich mit dem Gedanken:»›... Albdruck ist in unserer Familie, mein Papa hat es auch und ängstigt uns damit‹« 54 . Die Beruhigung hält aber nicht lange vor. Hat denn nicht Rollo in Panik gebellt und das Gespenst gesehen? Sind nicht Tiere die verlässlichsten Zeugen? Pferde scheuen plötzlich, Katzen buckeln, Hunde bellen, wenn Gespenster in ihrer Nähe auftauchen. 55 Erlebnisfetzen, Erinnerungen, Episoden und Bilder wirbeln durch Effis Kopf und lösen eine akute Spukbesessenheit aus. Alle Zeichen und Verweise laufen auf einen Punkt zu und verbinden sich zu einem Komplex, der sein Zentrum in dem unscheinbaren Fibelbildchen hat, das nun wie ein Verstärker in einem»Angstapparat« 56 funktioniert oder, wie es der Autor einmal formuliert hat, wie ein»Drehpunkt für die ganze Geschichte« 57 . Im Chinesenbildchen steckt die Energie einer ganzen Bilderkette. Der Chinese steht für das bedrohlich Fremde im nächsten Umfeld einer unsicheren jungen Frau. Selbst eine Abbildung in Effis altem Bilderbuch,»›wo ein persischer oder indischer Fürst(denn er trug einen Turban) mit untergeschlagenen Beinen auf einem roten Seidenkissen saß,[...] und die Wand hinter dem indischen Fürsten starrte von Schwertern und Dolchen und Parderfellen und Schilden und langen türkischen Flinten‹« 58 – selbst die Erinnerung an dieses Bild aus der Kindheit verstärkt Effis Angst vor dem unheimlich Fremden. Der persische oder indische Fürst gleicht zudem auffällig ihrem Gatten, der wiederum gerne vom»chinesischen Drachen« 59 schwärmt, der an Festtagen über den Dächern Kessins flattert – womit die Bilderreihe wieder beim Krokodil anlangt, das im Flur des Kessiner Amtshauses von der Decke baumelt und letztlich für den höllischen Lindwurm steht. Mit dem Chinesen ist außerdem das Bildnis der ›weißen Frau‹ mit ihren»herben, etwas unheimlichen Gesichtszügen« 60 verwandt. Der kleine Chinese scheint ihr Verbündeter.
Heft
(2018) 106
Seite
59
Einzelbild herunterladen
verfügbare Breiten