Heft 
(2018) 106
Seite
79
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Heike Gfrereis im Interview mit Peer Trilcke 79 HG: Nein, das Digitale ist in diesem Fall ja schlicht und einfach nur das Digitalisat und damit ein anderer Aggregatzustand des Originals, das in Ausstellungen aus Gründen der Sicherheit und Bestandserhaltung unbe­rührbar ist. Paradoxerweise ist es die digitale Präsentation, die den Besu­chern die sinnlich-körperlichen Erfahrungen von Nähe und damit die intu­itiv-immersive Erfahrung der Materialität, Authentizität und Einzigartigkeit erlaubt, die so sehr mit dem Original assoziiert wird, aber auf analoge Weise in einer Ausstellung tatsächlich gar nicht möglich ist. Damit das in einer Ausstellung funktionieren kann, müssen aber, das glaube ich schon, auch Originale anwesend sein, weil sie für die meisten von uns immer noch eine andere Art von Präsenz, imaginärer Haptik und Ernsthaftigkeit besitzen, eine Berühr-mich-nicht-aber-schau-mich-umso­mehr-an-Aura. Originale sind, so bilde ich mir zumindest ein, schon ein wenig umständlicher, widerständiger und eigensinniger, dreidimensiona­ler. Und damit gefühlt tiefer als die so einfach skalier- und mobilisierbaren und als ›Layers‹ übereinanderschichtbaren Digitalisate. Hinzu kommt der öffentliche Ausstellungsraum, der im Idealfall mit seiner(realen oder vir­tuellen) Architektur und Atmosphäre ebenso eigensinnig wie die Objekte behauptet: In mir existiert eine andere, eben ästhetisch dichtere und also etwas zähere Art von Zeit und Raum. Vielleicht kann man das Verhältnis von Original und Digitalisat mit dem Verhältnis von Gedicht und Lesung vergleichen. Der Medienwechsel löst das Gedicht zwar als optischen Gegenstand auf, aber er bringt noch einmal anders in unser Bewusstsein, was es heißt, mit einem»Display sprachlicher Medialität« und damit mit einem»Katalysator ästhetischer Evidenz« umzu­gehen(wie Rüdiger Zymner Lyrik definiert hat 15 und wie ich das Potential jeder Literatur-Ausstellung und jedes ihrer Exponate bestimmen würde). Der Medienwechsel macht Gegenstände flüssig und beweglich und holt sie in die Gegenwart herein, in den Augenblick und in den Prozess. Er erlaubt die Performativität des Materials. PT: Neben den Digitalisaten, also schlicht Bildern von Handschriften, wird das Digitale noch eine andere Rolle in der Ausstellung spielen. Wir haben uns in den vergangenen Monaten mehrfach über digitale Verfahren der Analyse von Literatur ausgetauscht, Verfahren, die derzeit unter der Be­zeichnung ›Digital Humanities‹ oder auch unter dem Schlagwort ›Distant Reading‹ verhandelt werden, quantitative Verfahren, die Strukturen be­schreiben oder auch einfach erst einmal Wörter auszählen, deren Häufig­keit oder Seltenheit erheben. Magst Du kurz umreißen, vielleicht an einem Beispiel, was Ihr hier vorhabt und was Dich an diesem doch eher formalis­tischen, jedenfalls stark von der imaginativen Lektüre abstrahierenden Zugang zur Literatur reizt?