Heft 
(2018) 106
Seite
81
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Heike Gfrereis im Interview mit Peer Trilcke 81 ­permanent beschäftigt, aus normalen Sachen ganz besondere zu machen, indem wir filtern und fokussieren, erzählen, verkomplizieren, pathetisie­ren, ästhetisieren, verklären. Daher schenken wir in der Ausstellung den kleinsten Elementen von Fontanes Wirklichkeitspoesie ein eigenes und sogar das insgesamt größte Kapitel. Die zusammengesetzten Wörter, die sehr häufig einen abstrakten Begriff mit einer individuellen Vorstellung, einem Gefühl oder einer Hand­lung kombinieren(wie Generalweltanbrennung, Menschheitsbeglückungs­idee, Weltverbesserungsleidenschaft und Zärtlichkeitsallüren), sind für uns ­Leser ideale Pathosformeln und werden in digitalen Textanalysen als Hapax legomena nach oben gespült. Sie sind das Leitmotiv der Ausstellung fontane.200/Autor. PT: Ich finde diesen Ansatz faszinierend, nicht nur, weil er die Ergebnisse digitaler Analyse auf ihre Vermittelbarkeit, auf ihre Kommunizierbarkeit hin prüft und damit auch die Wissenschaft zur Selbstreflexion ihrer Dar­stellungsformen einlädt sondern auch, weil die Art, wie Du mit diesen digitalen Daten umgehst, für mich noch mal eine ganz neue Dimension er­öffnet, denn: Indem diese Daten ausgestellt werden, gewinnen sie, obwohl doch eigentlich abstrakt und unsinnlich, eine neue Form der Materialität, die auch eine eigene Ästhetik hat, wobei die Ästhetik des Textes darin zwar verwandelt, aber doch irgendwie aufgehoben ist. HG: Natürlich habe ich auch etwas aus dem 18. Jahrhundert durch das for­ma l i st i sch-st r u k t u ra l i st i sch- dekon st r u k t iv i st i sch-sem iot i sch-post st r uturalistische 20. Jahrhundert in mein 21. genommen: die romantische Idee, die Lyrik sei so etwas wie Ursprung und Vollendung der Literatur, weil hier akustisch und optisch eintritt, was dann 1960 Roman Jakobson in sei­nem berühmten Aufsatz Linguistik und Poetik beschrieben hat:»Jede Se­quenz ist ein Simile.« 16 Laute, Wörter, Sätze, bestimmte rhetorische und narrative Formeln wiederholen sich in einer Sprache, die eine poetische und damit eigenständige, autonome Funktion besitzt. Am deutlichsten macht das der Reim. Jedes Wort am Vers-Ende ist ein Simile des vorange­gangenen und nachfolgenden. So wie jedes Wort in einer Verszeile, das einem Metrum folgt, allen andern gleicht, die dieses Metrum realisieren. Die Eigenschaft ›betont/unbetont‹ ist ebenso wichtig für die Auswahl und Position wie die Referenz des Worts. Wir finden das heraus, indem wir Silben zählen und Buchstaben und Gedichte sozusagen mit den Fingern lesen mathematisch-quantitativ und zunächst einmal nicht qualitativ­evaluierend. Das empfand ich immer als Riesenglück der literaturwissen­schaftlichen Strukturalismen, als eine Möglichkeit, individuell frei zu wer­den von dogmatischen Denkweisen, aber eben auch von den Kurzschlüssen der eigenen Imagination, die oft viel zu schnell etwas hineininterpretiert, was in einem Text überhaupt nicht da steht, weil sie ihn in irgendeine