Heft 
(2018) 106
Seite
82
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82 Fontane Blätter 106 Freie Formen Schublade schieben möchte. Beim mathematisch-quantitativen Lesen wer­den dagegen der Text und seine Textur oder Struktur als Gegenstand ima­giniert und eben nicht seine Bedeutung. Von diesem Ansatz aus ist es nicht weit zu den digitalen Textanalysen, die das, was das ›Close Reading‹ für eine kleine Form wie die Lyrik leistet, für eine größere Textmenge ermöglicht: Similes herauszufinden, Muster, Wiederholungen, Maßeinheiten und eben auch Abweichungen und Einzig­artigkeiten. Bei einer großen Form wie dem Roman können wir das nur passagenweise ›von Hand‹ machen, aber nicht für Textmassen und auch nie für den ganzen Romantext. Jeder kann einmal selbst ausprobieren, wie lang er braucht, um die Wörter und Satzlängen im ersten Kapitel des Stech­lin zu zählen. Das ist eine eigenwillige und sehr ästhetische, sehr fokussier­te Art der Texterfahrung, bei der man lernt, dass die imaginative Lektüre ohnehin eine Illusion ist. Die Romanlesesüchtigen ›verschlingen‹ den Text, indem sie ihn vergessen. Die mathematische, die digitale Analyse nimmt das auf, indem sie eben das einmal ausblendet: unsere eigene ästhetische Erfahrung eines Textes. Sie lässt uns einen Gegenstand noch einmal anders oder überhaupt erst sehen und spüren, indem sie an ihm linguistische, zähl- und messbare, vi­suelle und akustische Einheiten offenlegt. Vielleicht kann man es so zuspit­zen: Mit Hilfe der digitalen Textanalyse wird selbst aus einem Fontane-Ro­man ein Gedicht, das sich dann tatsächlich auch in einem Raum ausstellen lässt. PT: Eine letzte Frage: Wenn Du ein Fontane-Objekt erfinden könntest, das es nicht(mehr) gibt, das Du aber gern ausstellen würdest: was wäre das? HG: Kuratoren lieben ja solche Steinläuse. Aber Fontane hat seine schönste Steinlaus schon selbst erfunden: sein Fangeballspiel, verziert mit einer Lerche und Turteltauben, das wir tatsächlich noch ausstellen können. Er hat es wohl in den 1880ern im Sommerurlaub im Riesengebirge gekauft, am Schreibtisch gespielt und es in den Stechlin als poetisch-zweideutige Angelegenheit eingebaut. Armgard greift zu diesem Ballbecher immer dann, wenn es gilt,»leere Minuten auszufüllen«. Ihre Schwester Melusine deutelt an einem Abend:»Ich glaube, du fingst lieber wen anders. Und wenn ich dich so dasitzen sehe, so kommt es mir fast vor, als dächtest du selber auch so was. Du sitzt so märchenhaft da.« 17 Da haben wir sie wieder, die Punkte und Linien, die ganz einfachen, aber doch sehr tief- und ab­gründigen Bewegungsspuren, die Verschiebungsleistungen, die Fontane manchmal zu wunderbaren, märchenhaften oder auch leicht unheimlichen Klumpen verdichtet.