Heft 
(2018) 106
Seite
88
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88 Fontane Blätter 106 Freie Formen In Hinblick auf die Erzählkomposition ist dieses Kapitel übrigens beson­ders interessant, es eröffnet nämlichmit einem Brief des Kapitäns Backhu­sen. Diesen leider nicht überlieferten Brief hätte ich wahnsinnig gern, ein­fach um zu sehen, inwiefern wir es hier mit einer erzählerischen Finte oder mit einer Realie zu tun haben. Aber auch deshalb, weil er ein schönes Bei­spiel dafür ist, dass die Wanderungen ein Netzwerktext sind: ein Netzwerk, bestehend nicht nur aus Fontanes sogenannten Mitarbeitern, aus dem Adel, den Lehrern, den Landpastoren, sondern ein Netzwerk, in das auch die Leser eingebunden sind, etwa dieser Kapitän, der ja als ein Leser der Wanderungen inszeniert wird, der sich als»Halbautochthone[r] dieser Gegend« 8 bei Fontane meldet, weil er auch noch was zu bieten hat. PT: Sie erwähnten gerade den nicht überlieferten, womöglich auch nie existenten Brief des Kapitäns. Mit derartigen Lücken, also mit fehlenden Objekten, sind Sie gewiss ständig konfrontiert, wobei dann ja die Frage ist: Sind diese Lücken durch die Überlieferung entstanden oder waren sie schon immer da, wurde hier also Wirklichkeit im Schreibprozess nicht nur wiedererfunden, sondern vollständig erfunden? CB: Das ist tatsächlich eine Herausforderung, einschließlich der Frage, wie man diese Leerstellen ausstellen kann. Wobei es sich ja um Leerstellen auf zwei zeitlichen Ebenen handelt: Es gibt die Leerstellen, die Fontane selbst inszeniert, auf die er selbst den Finger legt. Wunderbar etwa die Szene auf der Weihnachtswanderung nach Malchow, 9 in der er mit einem Pfarrer durch die Kirche geht, und der Pfarrer sagt andauernd»Hier war die Gruft« und»hier war auch das Fuchssche Wappen«. 10 Und Fontane folgt dem Zeig des Pfarrers und blickt in die Leere. Das hatte, auch wenn er es humoris­tisch schildert,»etwas Gespenstisch-Visionäres«, wie er schreibt. Fontane ist also selbst mit dem Abbruch von Überlieferungen konfron­tiert, das ist die eine Zeitebene. Die andere betrifft uns heute. Es war immer wieder eine schreckliche Erfahrung, als ich zu Recherchen durch das Oder­bruch gereist bin: So viel wurde zerstört oder verstreut durch die letzten Kämpfe des Zweiten Weltkrieges was macht man mit diesen Leerstellen? Ich möchte in der Ausstellung zum Beispiel Kunersdorf und die ›Frau von Friedland‹, also Helene Charlotte von Lestwitz, dokumentieren, die ja eine gestandene Gutsverwalterin war. Fontane beschreibt ihr Porträt. 11 Und er skizziert sie, mit leichtem Befremden, als recht männlich. Was er damit meint, macht er ziemlich deutlich, aber wir können die Bilder nicht mehr sehen, nicht mehr zeigen, weil sie verloren sind. PT: Die Wanderungen wären damit auch in der Rezeption ein Zeugnis von Geschichte, die sich seit Fontanes Reisen ereignet hat, eben weil wir im Vergleich des in den Wanderungen Beschriebenen mit dem, was heute noch präsent ist, sehen, was verloren ging. Die Geschichten der Mark