146 Fontane Blätter 106 Rezensionen und Annotationen Alltagsgeschichtsschreibung der Umbruch zu einem modernen Geschichtsverständnis manifestiert. Erzähltechnische Innovationen erblickt Katharina Grätz zu Recht in der filmische Techniken vorwegnehmenden, extern fokalisierten Darstellungsweise in Unterm Birnbaum und in der Präsentation wahrnehmungs- und erkenntnistheoretischer Fragen, die in Cécile mittels des Wechsels von externer(Zugfahrt nach Thale) zu interner Fokalisierung(Gordons Perspektive in Thale und Berlin) gestellt werden. Graf Petöfy wird als doppeltes Experiment gelesen: Die Protagonisten experimentieren mit einer ungewöhnlichen Form der Ehe; zugleich sei der Roman eine Versuchsanordnung, die den zolaschen Determinismus auf den Prüfstand stelle. Wie das Eheexperiment scheitert, so werde auch Zolas anthropologisches Konzept widerlegt, weil Franziska am Ende ihr triebgesteuertes Handeln überwinde und ihren eigenen Entscheidungsspielraum behaupte. Freilich wirke – wie auch in L’Adultera, wo der Ehebruch zur Voraussetzung für die weibliche Identitätsfindung und für eine zeituntypisch partnerschaftliche Ehe wird – die»Problemkonstellation stichhaltiger als die angebotene Problemlösung«(S. 138). In den»Standesromanen«, die die Asymmetrien der Geschlechterordnung vor der Folie von Standesunterschieden thematisieren, kommt Fontanes Realismus dem Naturalismus am nächsten, differiert von ihm aber darin, dass er weder exakte Milieuschilderungen im naturalistischen Sinne leistet noch das sozialkritische Potenzial der Stoffe ausschöpft. Die»Zeitromane« als Gegenmodell zum Individual- und Bildungsroman spalten die Handlung mittels Simultantechnik in verschiedene Stränge auf und etablieren mehrere gleichwertige Protagonisten. Die Dominanz des Dialogs und der szenischen Darstellung erreicht hier, in Fontanes spätesten Romanen, ihren Höhepunkt. Frau Jenny Treibel, dem Genre des Berlinromans nahestehend, stellt die Spaltung des Bürgertums des zweiten Kaiserreichs in Bildungs- und Besitzbürgertum dar und analysiert zugleich den Missbrauch von Kunst und Bildung zu reinen»Dekorationszwecken« durch eine auf materiellen Besitz fixierte Gesellschaft. In den Poggenpuhls, die die Entheroisierung, ja»Selbstliquidierung«(S. 217) des Adels während der Modernisierungsprozesse des späten 19. Jahrhunderts thematisieren, spiegelt die Form die gesellschaftliche Desintegration und den Verlust einer gemeinsamen Wertorientierung wider: Es gibt weder eine geschlossene Handlung noch ein zeitliches Kontinuum, vielmehr herrscht ein sprunghaftes Erzählen vor, das den Charakter des Ausschnitt- und Lückenhaften betont. Wohin die gesellschaftliche Entwicklung gehen wird, bleibt am Ende ebenso offen wie die Zukunft der Figuren. Der Stechlin schlägt mit der zentralen Bedeutung von preußischer Geschichte und märkischen Schauplätzen einen Bogen zurück zu Vor dem Sturm und damit zum Beginn von Fontanes Laufbahn als Romancier; zugleich greift er Elemente der Urbanisierung, der Industrialisierung und Globalisierung sowie neue
Heft
(2018) 106
Seite
146
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