Heft 
(2018) 106
Seite
152
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152 Fontane Blätter 106 Rezensionen und Annotationen weiter nach Charlottenburg und Wilmersdorf. Es bilden sich neue Erfah­rungsweisen heraus, die auf die Beschleunigung und Anonymisierung, die sozialen Spannungen und Konflikte des großstädtischen Lebens reagieren. Zeitungen sind die neuen Kommunikationsmittel, der Feuilletonroman re­flektiert das großstädtische Leben. Es entsteht jetzt auch in Deutschland, nach dem Vorbild Englands und Frankreichs, eine Großstadtliteratur und mit ihr eine Ästhetik des ›urbanen Realismus‹. Fontane ist ihr bekanntester Vertreter, aber auch Paul Lindau, Max Kretzer oder Georg Hermann schrei­ben vielgelesene Berlinromane. Ihnen gilt die Untersuchung von Hinrich C. Seeba, einem seit vielen Jahrzehnten in Berkeley lehrenden, in San Francis­co und Berlin lebenden Germanisten. Bereits der Titel: Berliner Adressen verweist auf den originellen methodischen Zugang, die Archäologie Berli­ner Orte mit der Interpretation ihrer Zeichenfunktion im Roman zu verbin­den. Das literaturwissenschaftliche Interesse besteht darin, die Romanfik­tionen topographisch im Rückgriff auf reale Berliner Orte zu verstehen und zu interpretieren. Den interpretatorischen Schlüssel bildet dabei die Dia­lektik von realem und fiktionalem Stadtplan. Die ›Adressen‹ als reale Orte und symbolische Zeichen erweitern die Ästhetik urbanen Erzählens um ein neues Narrativ, das neben die Narrative des Fensterblicks, des Panoramas und der Flanerie, des Interieurs und des Salons, der Cafés und Theater, der Straßen, Plätze und Gärten tritt. Ein Blick auf das Ortsregister des Buchs, das mehr als 400 Verweise auf Berliner Straßen und Plätze enthält, belegt die profunde Ortskenntnis des Autors und zeigt vorab die Fruchtbarkeit der topografischen Lektüre. Die Fontaneforschung hat auch angeregt durch die methodische Devise ›Ortskenntnis geht vor Raumphantasie‹ (Klaus R. Scherpe) die ästhetische Relevanz der Orte erkannt. Das Buch Seebas reiht sich hier innovativ ein. Die Vermittlung von Realität und Fiktion, Topografie und Raumphanta­sie ist besonders dicht in Fontanes Romanen. Die ästhetische Komplexität der Romane erklärt, warum der stadtsoziologische Bezug lange übersehen wurde. Die Interpretation von Irrungen, Wirrungen, Frau Jenny Treibel, Effi Briest, den Poggenpuhls steht im Mittelpunkt des Buchs. Seeba zeigt, wie eng Erzählstruktur und Topografie, realer und fiktiver Stadtplan auf­einander bezogen sind. Der Stadtplan bildet die topografische Basis der dichterischen Phantasie: im fiktionalen Stadtplan werden die Orte zu Zei­chen, die Aufbau und Rahmen der Handlung, die Struktur der Konflikte, die Motivationen der Personen bestimmen. In Jenny Treibel bestimmt der topografische Ausschnitt, die räumliche und soziale Distanz zwischen der Adlerstrasse in der alten Mitte, der Adresse Wilibald Schmidts und seiner Tochter Corinna und des früheren Materialwarenladens der Eltern Jenny Treibels, geborene Bürstenbinder, und der kommerzienrätlichen Villa Treibel mit parkartigem Hintergarten, Springbrunnen und Papagei in der Köpenicker Straße südlich der Spree im Osten Berlins, die innere Dynamik