Seeba: Berliner Adressen Winckler 153 der Handlung und zeigt die sozialen Grenzen des Handlungsspielraums der Personen auf. Effi Briests gesellschaftliche Ausgrenzung, ihr tragisches Ende wird lokalisiert an Berliner Adressen: der fiktionale Verlauf spiegelt sich in der räumlichen Distanz zwischen der standesgemäßen Wohnung der Eheleute in der Keithstraße südlich vom Tiergarten und der kleinen Wohnung in der Königgrätzer Straße am Rand des Gleisdreiecks, in die Effi nach der Aufdeckung des ›Skandals‹ und der Trennung von ihrer Familie verbannt wird. Die verwitwete Frau von Poggenpuhl lebt mit ihren drei Töchtern, sozial und topografisch isoliert, in einer kleinen Wohnung in einem ›mauerfeuchten Neubau‹ in der Großgörschenstraße am südwestlichen Stadtrand von Berlin. Die räumliche Entfernung zum Potsdamer Platz als Ort des großstädtischen Lebens und Verkehrs ist ebenso groß wie die soziale Distanz zum Haus der Familie Bartenstein in der Nähe des Tiergartens mit seinen Menzelbildern. Sophie von Poggenpuhl erteilt hier Gesangs-und Klavierunterricht, begleitet die großbürgerlichen Soireen musikalisch; M anon von Poggenpuhl ist mit der jüngsten Tochter Flora befreundet. Aber eine engere Verbindung, etwa die Heirat des in die Provinz verschlagenen Kavallerieleutnants Leo von Poggenpuhl mit Flora Bartenstein liegt außerhalb der Grenzen, die die soziale Topografie der Fiktion zieht. Ein Sond erfall topografischen Erzählens bildet die Spannung von Zentrum und Peripherie. Lene Nimptsch und Botho von Rienäcker leben ihre unstandesgemäße Beziehung im städtischen Niemandsland der am ›Schnittpunkt von Kurfürstenstraße und Kurfürstendamm feldeinwärts sich erstreckenden Dörrschen Gärtnerei‹, auf Ausflügen ins ländliche Wilmersdorf und in ›Hankels Ablage‹, einem ehemaligen Fischerhaus an der Spree im Südosten Berlins. Ihre Trennung und der Wiedereintritt beider Personen in die soziale Normalität der Klassengesellschaft wird durch Fontane topografisch notiert. Lene wohnt mit ihrem neuen Partner, dem Fabrikmeister G ideon Franke am Luisenufer im Berliner Osten; Botho bezieht mit seiner Frau Käthe von Sellenthin eine Wohnung in der Landgrafenstraße südlich vom Tiergarten – Berliner Orte und Adressen, die der Herkunft und sozialen Existenz der Personen entsprechen. Die Fiktion folgt der sozialen Topografie. Fontanes Realismus beruht auf der Öffnung zur modernen städtischen Lebenswelt, die Verortung der Fiktion in Berliner ›Adressen‹ ist zentrales Merkmal dieses Realismus. Gleichzeitig verlangt Fontane aber eine ästhetische Verarbeitung und Deutung der städtischen Erfahrung – Fontane spricht missverständlich von ›Verklärung‹, die Seeba überzeugend als konstruktives Konzept deutet(S. 55–58) –, die bei aller Typisierung das Individuelle und Besondere jedes Einzelfalls und jeder Figur bewahrt. Dass die Personen auch anders, gegen die gesellschaftlichen Konventionen und den sozialen Kontext der Orte, entscheiden könnten, ist eine von Fontane immer wieder thematisierte oder zumindest angedeutete Perspektive. Von
Heft
(2018) 106
Seite
153
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