154 Fontane Blätter 106 Rezensionen und Annotationen Innstetten hätte durch die Nichtbeachtung der zufällig entdeckten Liebesbriefe sich und Effi, das Leben von Crampas, retten, Botho von Rienäcker hätte sich zu Lene Nimptsch bekennen, Jenny Treibel der Verheiratung ihres Sohnes mit Corinna Schmidt zustimmen können. Auch dafür, für das Nachdenken und das Gespräch, die Selbstdarstellung und Selbstkritik gibt es Orte und Adressen: private Orte wie das Interieur – die Wohnung, das Zimmer, die Küche –, gesellschaftlich repräsentative Orte wie das bürgerliche Empfangszimmer und den Salon, die ›freie‹ Natur und das Ausflugslokal, in denen die gesellschaftliche Bindung temporär suspendiert ist. Dass die Romanfiguren sich anders und d.h. normenkonform entscheiden, zeigt, dass die fiktionalen Handlungsräume letztlich an die soziale Topographie, an die Adressen als soziale Orte und Grenzscheiden, zurückgebunden sind. L’Adultera, Fontanes erster Berlinroman, scheint eine Ausnahme zu bilden. Der Bankier van der Straaten willigt in die Auflösung seiner Ehe mit seiner jungen Frau Melanie ein, die sich in den von ihrem Mann als Hausgast eingeladenen Volontär Ebenezer Rubehn verliebt hat. Nach der Trennung und Wiederverheiratung Melanies mit Rubehn kommt es zu einer Tolerierung und symbolischen Versöhnung der Romanpersonen, einem distanzierten Miteinanderleben im fiktiven Stadtplan des Romans. L’Adultera nimmt auch deshalb eine Sonderstellung in Fontanes Berlinromanen ein, weil Fontane hier auf die modernen städtischen Verhaltensformen, auf Distanz, Freundlichkeit und egalitäre Toleranz setzt – wie sie Georg Simmel mehr als 30 Jahre später, 1903, in seinem Essay Die Großstadt und das Geistesleben vorgestellt hat. Den eigentlichen Beginn des Berlinromans sieht Seeba in Paul Lindaus 1886 erschienenem Roman Der Weg nach dem Westen. Als Herausgeber der Publikumszeitschrift Nord und Süd hatte Lindau 1880 Fontanes L’Adultera in Fortsetzungen abgedruckt. Lindaus Titel beschreibt ein Programm, das für viele Berlinromane, auch die Fontanes, verbindlich war – gemeint war der Zug vom ›arbeitsamen und erwerbenden nach dem genießenden und ausgebenden Berlin‹(P. Lindau[1886] 1921, S. 74). Der Zug von Osten nach Westen steht für gesellschaftlichen Aufstieg und kulturellen Wandel im Berlin des letzten Drittels des 19. Jahrhundert. Sie sind das Thema von Lindaus Roman und bestimmen den topografischen Hintergrund der Handlung. Die Adressen der Hauptpersonen Maximilian Wilprecht und Gustav Ehrike dokumentieren den sozialen Aufstieg, denn beide wohnen im Westen am Tiergarten: in der Tiergartenstraße bzw. der Regentenstraße, beide kommen aus der Koppenstraße im Osten, dem Sitz der gemeinsamen Firma, beide leben nach dem Verkauf der Firma von den an der Börse angelegten Renditen. Maximilian und Stephanie Wilprecht führen einen Salon, der wohlhabende Bürger und Künstler zusammenführt. Gustav Ehrike verliert nach der Trennung von seiner Frau Charlotte Pauly das Interesse am kulturellen Leben des Westens, er verkauft sein Haus in der Regentenstraße und
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(2018) 106
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154
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