Heft 
(2018) 106
Seite
155
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Seeba: Berliner Adressen  Winckler 155 kehrt in den Osten, in die Koppenstraße zurück. Der fiktionale Stadtplan des Romans spiegelt den sozialen und kulturellen Gegensatz zwischen al­tem und neuem Berlin, seinen Mittelpunkt bildet die Topografie des kultu­rellen Zentrums ›Unter den Linden‹ mit seinen Cafés, seinen Restaurants und Geschäften, den Theatern und der Oper. Die Personen begegnen sich in Salons, sehen sich im Café und der Oper, bewegen sich und reden miteinan­der auf den Straßen zwischen Tiergarten, Brandenburger Tor, Friedrich­straße und Potsdamer Platz. Keiner der späteren Berlinromane weist eine ähnlich hohe Zahl von Adressen auf und dennoch ist die Verortung erzäh­lerisch nicht integriert, werden die Adressen nicht zu narrativen Zeichen im fiktiven Stadtplan des Romans. Die Geschichte, die Lindau erzählt, eine Trennungsgeschichte ähnlich wie Fontane in LAdultera hat kolportage­hafte Züge. Anders als bei Fontane bildet die Stadt Berlin nur den Hinter­grund für ein Melodram, das nach dem traditionellen Schema von uner­laubter Liebe, Schuld und Sühne abläuft. Die künstlerisch begabte, sensible Charlotte Pauly kann zwar den ungeliebten, höheren Interessen unzugäng­lichen Ehepartner Gustav Ehrike verlassen und nach einer religiösen ­Einkehr den jungen und erfolgreichen Komponisten Georg Nortstetten heiraten, so auch ihren Weg von der Breslauer Straße im Osten nach der Stü­lerstraße im Westen, der gemeinsamen Wohnung des jungen Paars, fortsetzen sie stirbt aber im Kindbett. Anders liegen die Dinge in Max Kretzers 1888 veröffentlichtem Roman Meister Timpe. Kretzer verlegt den Schauplatz seines Romans in den Berli­ner Osten. Die soziale Topografie bildet hier nicht den kulissenartigen Hin­tergrund wie bei Lindau, sondern tritt ganz nach vorn und determiniert naturalistisch Handlung und Personen des Romans. Ort und erzählerischer Raum des Romans ist die Holzmarktstraße; sie ist im Stadtplan verzeichnet als Mittelpunkt des im industriellen Umbruch befindlichen alten Handwer­kerviertels am Nordufer der Spree östlich vom Alexanderplatz. Die Gegend ist aus Paul Lindaus Roman bekannt seine bürgerlichen Protagonisten im Westen stammen aus der Koppenstraße. Fontane verlegt Villa und Fabrik der Treibels in die Köpenicker Straße am gegenüberliegenden südlichen Ufer der Spree. Hier handelt es sich um soziale Orte gelungener oder Rück­zugsorte gescheiterter Emanzipation. Bei Kretzer wird der Ort zum lokalen Topos für den Untergang des Handwerks. Am Schicksal der Hauptperson, des Tischlers und Schreiners Timpe, schildert Kretzer den Untergang handwerklicher Lebensweise und Werte im Zuge der Industrialisierung. Die Krise des Handwerks, die Auflösung des kleinen Handwerksbetriebs und die Übernahme seiner Produktion durch die Industrie wird topogra­phisch an der Errichtung neuer Fabrikgebäude, dem Ausbau städtischer Verkehrswege und der Zerstörung der Werkstatt und des Hauses gezeigt. Meister Timpe überlebt den Untergang von Haus und Betrieb nicht. Topo­grafie und Narration, Stadtplan und Romanhandlung sind eng verzahnt.