Heft 
(2018) 106
Seite
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156 Fontane Blätter 106 Rezensionen und Annotationen Jede Phase des beruflichen Abstiegs, des materiellen und des psychischen Verfalls wird durch topografische Veränderungen eingeleitet und begrün­det. Räumliche Isolierung, soziale Ausgrenzung und psychischer Verfall bedingen einander und lassen Timpe keine andere Wahl als den Tod. Der reale Stadtplan und seine soziale Logik sind identisch mit dem fiktiven Stadtplan die Narration lässt, anders als bei Fontane, keinen Raum für Alternativen im fiktiven Verlauf, für das Aushandeln und Ausbalancieren von gesellschaftlichen Zwängen und individuellen Interessen zwischen Re­alität und Fiktion. Das Milieu, oder anders gesagt: die Adressen, bestim­men das Schicksal. Georg Hermanns Roman Jettchen Gebert nimmt aus vielen Gründen eine Sonderstellung ein. Er ist 1906, mehr als 20 Jahre nach den Berlinro­manen Lindaus und Kretzers erschienen und setzt im Abstand von fast ei­nem Jahrzehnt die Tradition der Romane Fontanes, hier aber mit dem Blick auf das jüdische Berlin und die Emanzipation des deutsch-jüdischen Bür­gertums, fort. Georg Hermann, 1871 mehr als 50 Jahre nach Fontane ge­boren, ging nach 1933 ins holländische Exil und wurde nach der Besetzung Hollands 1943 nach Ausschwitz deportiert und dort ermordet. Gert und Gundel Mattenklott haben 1996 begonnen, seine Werke und Briefe heraus­zugeben. Der reale Stadtplan, auf die sich die Fiktion bezieht, ist die histo­rische Mitte Berlins, die im Osten und Norden von der Neuen Friedrichstra­ße, im Süden vom Mühlendamm und im Westen vom Schloss begrenzt ist. Privilegierte Handlungsorte sind die Straßen und Plätze zwischen der Kö­nigstraße und der Spandauer Straße, die den Stadtplan von Osten nach Westen und von Süden nach Norden durchqueren. Die Rückverlegung der Handlung in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts und die topografische Entscheidung für die alte Mitte, dem damaligen Zentrum Berlins, geschieht bewusst: sie sollen die historische Verankerung des jüdischen Bürgertums in der Mitte der Gesellschaft belegen. Wohnung und Tuchhandlung Salo­mon Geberts liegen in der Spandauer Straße, später einer der wichtigsten Hauptgeschäftsstraßen Berlins. Hier haben im 18. Jahrhundert Friedrich Nicolai, Moses Mendelssohn und für kurze Zeit auch Lessing gewohnt, der Salon der Henriette Herz befand sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts in der Neuen Friedrichstraße. Die Konfliktlinien verlaufen nicht, wie in den anderen Berlinromanen, zwischen preußischem Adel und aufsteigendem Bürgertum, zwischen industriellen Unternehmern, städtischen Handwer­kern und kleinen Gewerbetreibenden, sondern zwischen emanzipiertem großstädtischen Judentum und dem mit der städtischen Zivilisation unver­trauten orthodoxen Judentum aus dem Stetl, dem die Rolle der ›niederen Klasse‹ in Fontanes Romanen zugeschrieben wird. Die emanzipierten Ju­den, wie die Berliner Familie Gebert, stehen unter einem doppelten Druck: Sie können die Emanzipation vorantreiben bis zur völligen, auch familiären Auflösung in die bürgerliche städtische Gesellschaft oder versuchen, die