Heft 
(2018) 106
Seite
157
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Seeba: Berliner Adressen  Winckler 157 Emanzipation im Rahmen des traditionellen Familienverbands zu halten. Exemplarisch wird das vorgeführt an der Person Jettchen Geberts, die sich entscheiden muss zwischen der Heirat mit dem ihr von der Familie vorbe­stimmten Verwandten Julius Jacoby, einem unkultivierten, aber ehrgeizi­gen, in der Lederbranche tätigen Verwandten aus Posen, und einem Leben mit Dr. Friedrich Kößling, einem begabten Schriftsteller und Bibliothekar ohne feste berufliche Bindung. Der reale Stadtraum Berlin bildet auch hier den Handlungsraum der Fiktion, er bestimmt ihren narrativen Diskurs: Zu­fällige Begegnungen auf Berliner Straßen und Plätzen, Gespräche in der städtischen Öffentlichkeit und im privaten Interieur der Wohnung des kul­tivierten Sammlers und Lesers Jason Gebert, Spaziergänge in Parks und Gärten sind zentrale Elemente urbanen Erzählens. Auch die städtischen Rand- und Grenzräume sind Orte des städtischen Diskurses. Sie sind, wie schon bei Fontane, nicht das ›ganz andere‹, sondern als erzählerisch inte­griertes Idyll Teil des städtischen Raums: privilegierte Orte, die den Aus­druck intimer Gefühle gestatten. Georg Hermann verlegt die entscheidende Wendung seines Romans in die Sommerwohnung der Geberts im damals noch ländlichen Charlottenburg. Die Intimität des Hauses und Gartens, die abgeschiedene Öffentlichkeit der Wege im Schlosspark sind Orte, an denen ­Jettchen Gebert und Friedrich Kößling ihre Zuneigung und Liebe entdecken und aussprechen. Dass das Familieninteresse über die Liebe siegt, der Ro­man die Spannung von Zentrum und Peripherie nicht lösen kann, steht wie etwa auch in Fontanes Irrungen, Wirrungen oder Stine auf einem anderen Blatt. Der Roman hat einen offenen Schluss: Die geplante Hochzeit wird nicht wirklich vollzogen, am Ende steht die Flucht Jettchen Geberts in die anonyme Stadt. Hermann beschreibt in einem zweiten, nachfolgenden Ro­man das weitere Schicksal seiner Protagonistin und ihrer Verbindung mit Friedrich Kößling aber der Leser weiß bereits aus dem Vorwort zu Jettchen Gebert, daß die ihr zugeschriebene Lebenszeit begrenzt ist. Der das Buch abschließende Ausblick auf Günter Grass Weites Feld schließt den Bogen zu Fontanes Berlinromanen, zur Thematik der sozialen Stadttopografie und der Poetik des urbanen Realismus. Die Interpretation fordert auf zur Re-Lektüre des gesamten Buchs unter dem Aspekt des Nach­denkens über die ›Gleichräumigkeit des Ungleichzeitigen‹(S. 255) in der Berlinwahrnehmung und Berlinliteratur des späten 19. Jahrhunderts und der Jahrhundertwende, die angesichts der vergangenen hundert Jahre deutscher und Berliner Geschichte, aber auch der gegenwärtigen Perspek­tive eines historischen Neuanfangs eine neue erinnerungsgeschichtliche Dimension erhalten. Das Berlin, das Fontane und die zeitgenössischen Au­toren beschreiben, existiert nicht mehr: Die historische Mitte, das gründer­zeitliche Tiergartenviertel mit seinen Villen und bürgerlichen Wohnhäu­sern, die im Osten angesiedelte Industrie sind verschwunden. Als Textzitate werden die verschwundenen Orte für den Leser wieder zugänglich, dazu