Heft 
(2018) 106
Seite
158
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158 Fontane Blätter 106 Rezensionen und Annotationen müssen sie ortskundig erschlossen werden. Seeba legt, vergleichbar einem Archäologen, die Spuren der vergangenen Stadt, städtischen Lebens und ihrer zeitgenössischen literarischen Wahrnehmung frei die Adressen die­nen dabei als Wegweiser. Wissenschaftsgeschichtlich ist die Untersuchung dem spacial turn zu­zuordnen. Sie verbindet das Interesse an der Sozialtopografie der Stadt me­thodisch mit der Rekonstruktion der Ästhetik des urbanen Realismus und ergänzt neue topologische Untersuchungen wie etwa Katrin Scheidings Raumordnungen bei Theodor Fontane(2012) um ein weiteres Narrativ. Sie verlangt ortskundige und literarisch bewanderte Leser, die sich auf das in­terpretatorische Spiel von Realität und Phantasie, den Vergleich von realem und fiktiven Stadtplan einlassen. Die wissensgeschichtliche Basis dieser Lektüre wird in zwei Einleitungskapiteln vorgestellt. Der Autor gibt zu­nächst einen theoriegeschichtlichen Überblick über das sozialgeschichtli­che und literaturwissenschaftliche Verständnis des Raums. Im Mittelpunkt seiner Überlegungen steht die Unterscheidung zwischen realen und fiktio­nalen Orten. Die Sozialtopografie, wie sie von den Sozialwissenschaften entwickelt wurde, der reale Stadtplan bildet den Ausgangspunkt urbanen Erzählens im Feuilleton, im Roman und seit dem Impressionismus auch in der bildenden Kunst- sie definiert aber nicht den ästhetischen Diskurs der Stadt. Im literarischen Artefakt werden die Orte zu ästhetischen Zeichen mit eigener Deutungsfunktion: der fiktionale Stadtplan und seine Adressen übernehmen diese Deutung. Die Adressen sind Hybride, die zwischen Rea­lität und Fiktion, realem und fiktiven Stadtplan zwischen sozialer Wahr­nehmung und ästhetischer Deutung der modernen Stadt vermitteln.(Die typografische Hervorhebung der Adressen im Buch ist vermutlich als Le­sehilfe gedacht: Sie hilft bei der Lokalisierung im Stadtplan, erschwert al­lerdings ihre Entzifferung und Deutung als ästhetische Zeichen im literari­schen Text.) Der sozialgeschichtlichen Herleitung und ästhetischen Definition des ›urbanen Realismus‹ wendet sich Seeba im zweiten Einleitungskapitel zu. Der ›urbane Realismus‹ ist die literarische Antwort auf die mit der Verstäd­terung einsetzende soziale Umschichtung und Entfremdung der Gesell­schaft, wie sie unter dem Stichwort der anonymen Masse von der Sozialthe­orie und Massenpsychologie bei Le Bon, Simmel, Freud und Elias Canetti thematisiert wird. Die Literatur auf deutscher Seite sind die Vorläufer E.T.A. Hoffmann und Heine, in den englischsprachigen Ländern Edgar Allan Poe, in Frankreich Baudelaire, der wie Walter Benjamins Studien nur am Rande erwähnt wird, versucht, Antworten auf die mit der Verstädte­rung gegebene Anonymisierung zu finden. Den Darstellungsmodus und Deutungsanspruch des ›urbanen Realismus‹ erläutert der Autor mit dem Vorgriff auf Hans Blumenbergs Konzept der ›Lesbarkeit der Welt‹ als einen grundlegenden, Alltag, Natur, Geschichte und Raum umfassenden Modus