Otto Brahms Essay über Ibsen Möller 25 er zog. Ausgangspunkt der Darstellung ist Brahms erste Begegnung mit Ibsen, der damals in freiwilligem Exil in Italien lebte.»Als ich im Frühjahr 1885 nach Rom kam, sollte ich Henrik Ibsen Grüße überbringen.« 25 Brahm traf den Dichter, wie er zu Beginn seines Essays erzählt, im Café Aranjo, wo dieser regelmäßig verkehrte und immer ganz allein für sich an einem Tisch saß, und lernte ihn als eine bewundernswerte Persönlichkeit kennen.»Der Gedanke mußte aufsteigen: wie hat eine so ausgeprägte Persönlichkeit sich entwickeln können? Unter welchen Bedingungen ist sie groß geworden, welche Erlebnisse haben ihr Richtung gegeben? Aus dem Versuch, diese Fragen zu beantworten, ist dieses Buch entstanden.« 26 Brahm gliedert seine Beschreibung der Biographie Ibsens und seines literarischen Werkes in sechs Abschnitte und erklärt die Entwicklung der Dichterpersönlichkeit aus der Leiderfahrung und der Auseinandersetzung mit dem Vaterland. Der erste Abschnitt endet mit der Ausreise Ibsens nach Rom im Jahr 1864. Aus der Entfremdung zur Heimat erklärt Brahm in einem zweiten Abschnitt den Kampf gegen die»Halben« und die Stücke Brand und Peer Gynt. Durch seine Hinwendung zu den Konflikten des täglichen Lebens, zum»Familiendrama« und durch die Verwendung einer einfachen, lebensnahen Prosa-Sprache wurde Ibsen»der große Naturalist des Dramas, wie Zola der Naturalist des Romans geworden ist«. 27 Diese Entwicklung stellt Brahm ins Zentrum des dritten Abschnitts seiner Darstellung. In dem Schauspiel Nora sieht Brahm nicht nur einen Höhepunkt in der künstlerischen Entwicklung Ibsens, sondern auch den Beginn einer neuen Periode für das ganze nordische Drama. 28 Die Anerkennung, die Ibsen für kurze Zeit in Skandinavien fand, schlug mit dem Familiendrama Gespenster wieder in Entrüstung und starke Ablehnung um. Auch in Berlin wurde das Stück sofort nach der ersten Aufführung im Januar 1887 verboten. Diesem Stück und dem Eindruck der ersten Berliner Aufführung widmet Brahm den vierten Abschnitt seiner Darstellung, in dem er aus dem Vergleich mit dem Idealismus der Zeit Goethes und Schillers sein»ästetisches Glaubensbekenntnis« formuliert: In der ganzen weiten Welt, bei den Menschen und den Dingen, sehe ich nichts, unbedingt nichts, was einer künstlerischen Behandlung nicht könnte unterzogen werden: offen und frei liegt Alles da, nur zuzugreifen hat der Dichter, von keinem Schlagbaum der Theorie gehemmt. Nicht das Was entscheidet, sondern allein das Wie in der Dichtung[…]. Anders ist die Forderung unserer Tage an den Poeten, anders das Bedürfniß jener gewesenen Zeit; aber wenn die Entwickelung in aller Dichtung hierauf zielt: immer mehr Natur in die Kunst aufzunehmen, poetisch-neues Land dem Leben abzugewinnen, gleichwie Faust Land abzwang dem Meere – so ist kein neuerer Dramatiker kühner und großartiger nach vorwärts geschritten, als der Verfasser der ›Gespenster‹. Und der Widerspruch, den sein
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(2019) 107
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