Heft 
(2019) 107
Seite
26
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26 Fontane Blätter 107 Unveröffentlichtes und wenig Bekanntes ­Unternehmen erweckte, bei uns lauter weckte, als einst in der Hei­math des Dichters, weil gerade auf unserer Bühne alles Neue und Ungewöhnliche so gern unterdrückt wird dieser Widerspruch kann unser Urtheil nicht erschüttern, eher befestigen: nicht anders wurden, hundert Jahre vor uns, die ›Räuber‹ und ›Kabale und Liebe‹ begrüßt. 29 Im folgenden fünften Abschnitt widmete sich Brahm den Reaktionen ­Ibsens auf diese neue Welle der Ablehnung mit seinen jüngsten Stücken: Ein Volksfeind, Die Wildente und Rosmersholm. Sein Essay endet in der un­mittelbaren Gegenwart der Darstellung mit der Erinnerung an den Besuch Ibsens im Januar 1887 in Berlin anlässlich der Aufführung seiner Gespens­ter und der kleinen Ansprache, die der Dramatiker bei dieser Gelegenheit gehalten hat:»Meinen Besuch in Berlin betrachte ich als ein wahres und großes Glück für mich. Er hat auf meine Seele wunderbar erfrischend und verjüngend gewirkt und wird auch ganz unzweifelhaft in meiner künftigen Dichtung seine Spuren hinterlassen.« 30 Brahm schloss daraus auf eine be­vorstehende entscheidende Wendung in Ibsens Poesie. In dem abschließenden sechsten Abschnitt versucht Brahm eine vorläu­fige Gesamtwürdigung Ibsens und seines Werks: Und er formulierte die Aufgabe, Ibsen einen Platz auf der deutschen Bühne zu geben. Plötzlich und überraschend selbst für seine Anhänger ist Ibsens dichterische Größe erkannt worden, auch von den Widerstreben­den; und er wird, nun er begonnen hat die stärkste literarische Wir­kung auszuüben, auch auf unserer Bühne den Platz sich gewinnen, der ihm gehört. Noch zwar verhalten sich die deutschen Theater kühl zu der gesammten Production des Dichters[] Noch zwar hat die schöne Pflicht Niemand eingelöst: ein ganzes Publicum in plan­mäßigen Zusammenhang in den Gedankengang des Dichters einzu­führen, und durch eine Darstellung seiner modernen Schauspiele [] auch die deutschen Theaterbesucher ibsenreif zu machen. Aber näher oder ferner, die Zeit muß kommen, in der die Erkenntniß sol­cher Pflicht unter uns aufsteht. Denn hier ist ein Dichter erwachsen, der, allem Epigonenthum entsagend, zum unbekannten Strande den Mast richtet; den es mit wehenden Wimpeln einer im Werden be­griffenen Kunst entgegen zieht. 31 Brahm konnte nicht wissen, dass er selbst es sein würde, dem diese Aufga­be nur wenig später anvertraut werden würde.»Ibsen war das Ereignis seines Lebens[]«, erklärte Paul Schlenther im Vorwort der von ihm her­ausgegebenen Kritischen Schriften von Otto Brahm. 32 Mehr als durch seinen Essay und sein kritisches Werk wurde Brahm durch seine Theater-Praxis einer der entschiedensten Förderer des Natura­lismus auf der deutschen Bühne. Brahm wurde Mitbegründer und Leiter des Vereins Freie Bühne, gegründet am 5. April 1889 nach dem Vorbild und