›Typisch Fontane‹? ›Typisch Mathilde‹? Loster-Schneider 45 übrigens just einen jungen Kollegen aus der eingangs erwähnten Dresdner Salomonis-Apotheke: Fontane ist ein prächtiger Kerl,[…] sonst aber ein kurioser Kauz,[…] Charakter habe ich noch nicht viel bemerkt, und daher sind seine Grundsätze schwankend, ohne inneren Halt. Er verteidigt nicht selten die niederträchtigsten Maximen, aber nicht eigentlich weil sie die seinen sind, sondern weil es ihm Gelegenheit gibt seinen Scharfsinn glänzen zu lassen. 21 Mecklenburg wiederum rekurriert auf Bachtins prominente Roman-Theorie und stellt begrifflich so von den ›Ambivalenzen‹ auf Polyphonie, Vielstimmigkeit und Redevielfalt um. 22 Ehlich schließlich sieht in ihnen ein ästhetisches Analogon zu Fontanes ›seismographischem‹ Sinn für Inkommensurables und Desintegriertes. 23 Die zwei letztgenannten Beiträge sind für uns von besonderem Interesse, als sie Fontanes ambigue»Kunst des In-der-Schwebe-Lassens« 24 explizit in dem intersektionalen Zugangsrahmen verhandeln, um den es auch uns heute zu tun ist: Wissens- und Wahrnehmungsstereotype, wie sie uns in Fontanes Oeuvre als geschlechtliche, ethnische, nationale, regionale und andere auf Schritt und Tritt begegnen. Dass dem überhaupt so ist und Fontane stets fleißig solche Stereotypen kommuniziert, sollte übrigens nicht überraschen oder gar befremden: Zum einen hat die Kognitionsforschung ihren schlechten Ruf inzwischen erheblich verbessert. 25 Zum andern haben schon Stanzel und andere nachgewiesen, dass die Markierung literarischer Figuren nach nationaler Herkunft, Alter, Stand und Geschlecht seit der Antike in Poetiken und Epitheta-Lexika als die handwerkliche Technik schlechthin ausgewiesen ist, insbesondere bei komischen, ironischen und satirischen Schreibweisen und Genres. 26 II II.1 Fontanes riskante Arbeit mit nationalen und regionalen Stereotypen im Allgemeinen … Dementsprechend ist es ein hohes Verdienst der ›Jubiläums-Fontanistik‹ und ihrer Anschlussforschungen, das Feld nationaler Ego- und Alter-Imaginationen mit der interdisziplinären Stereotypenforschung verbunden und methodisch neu fundiert zu haben. Profitiert hat hiervon nicht nur – wie im Fall Mecklenburgs – die Antisemitismus-Frage, ein Schwerpunkt auch im erwähnten Tagungsband von 1998/2000. 27 Mit den dortigen Beiträgen von Aust, Berbig, Ossowski, Parr oder mir selbst 28 nahm die Forschung auch zu den Vorstellungs-Komplexen ›Deutschland‹, ›Frankreich‹, ›Polen‹, neuerdings ›Ungarn‹ 29 wieder, wenn nicht überhaupt erst, ›Fahrt auf‹. Dies
Heft
(2019) 107
Seite
45
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