Heft 
(2019) 107
Seite
46
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46 Fontane Blätter 107 Literaturgeschichtliches, Interpretationen, Kontexte hatte oft den schönen Nebengewinn, dass zunehmend auch Texte jenseits des Fontaneschen Kernkanons in den Blick gerieten: die Kriegsbücher und Kriegsgefangen, Vor dem Sturm, Quitt, Graf Petöfy, Mathilde Möhring ­beispielsweise. Es folgten hoch aktuelle Anschlussfragen nach Fontanes Identitäts-Konzepten, nach seinem imaginären ›nation building‹ 30 , nach sei­nen symbolischen Topographien, semiotischen Räumen und ›mentalen Karten‹. 31 Konsent ist, dass letztere zwar an fixe Raumordnungskategorien gebunden sind, etwa die Nord-Süd-Achse 32 und die Zentrum-Peripherie­Figur. Fontanes Rekurs auf einzelne nationale Stereotype ist aber stets fle­xibel, kontextuell und konfigurativ. 33 Und zumindest in den ästhetisch kom­plexen Systemen seiner Werke nutzt er sie, wenn nicht intentional, so doch funktional quer zur kollektiven, zunehmend polemischen Neuordnung der diskursiven Matrix. Von der ›deutschen Mitte‹ aus gesehen, gilt dies vor allem gegenüber den ›Franzosen‹ 34 und den sogenannten»Franzosen des Nordens«, den Polen. 35 Im Wissen auch darum, dass bei Prozessen der Fremd-/Eigen-Wahrnehmung und des Othering der größte und asymmet­rische Differenzierungsdruck just gegenüber den nächsten, angrenzenden ›Anderen‹ besteht, zielt(e) das Haupt-Interesse der Fontanistik daher bis­lang auf die genannten west-östlichen Nachbarn: 36 So adressiert der Thea­terkritiker die Nachbarn im Westen als»liebenswürdig[], eminent interes­sant[]«, aber auch»eitel« und uneinsichtig, dafür seien es»eben Franzosen«. 37 Der märkische Wanderer Fontane würdigt an Wenden und Polen ihre»lie­benswürdigen und blendenden Eigenschaften«, ihre»Ritterlichkeit« und »Leidenschaft«, ihren»Opfermut«, 38 und dies ganz im Tenor seiner Protago­nistin Victoire von Carayon in Schach von Wuthenow. Aber auch abfällige Versatzstücke aus dem nationalstereotypen Diskurssystem werden, meist figur- oder erzählerperspektivisch abgefedert, eingespielt. In Quitt wird die schlesische Mutter des Protagonisten von dessen(preußischem) Kon­trahenten als»verschlagen«,»heimtückisch« und»feige« diffamiert, ihr ste­cke»noch so was Polnisches im Blut«. 39 Cécile erscheint in Gordons eroti­sierter Wahrnehmung als ›polnisches Halbblut‹. 40 Und Innstetten schließlich diskreditiert seinen Antipoden Crampas bei Effi als unverlässlichen ›halben Polen‹,»Spielernatur« und ›risk-taker‹:»[E]r hasardiert im Leben in einem fort«. 41 (Womit Crampas, in Klammern gesprochen, aus Sicht des Kriegsbe­richtserstatters Fontane übrigens ebenso gut ein typischer Pariser sein könnte. 42 ) Und, wie diese Projektionen polnischer und französischer Negativste­reotype auf schlesische und pommersche Figuren zeigen: Nicht minder Provokantes und Riskantes als auf internationalem Terrain findet sich auch auf innerdeutschem: Mecklenburger seien, erfährt Freund Friedländer 1895 nun vom Autor höchstselbst, ein»merkwürdiges Geschlecht«,»alle begabt, aber schließlich doch meist nur Mittelsorte«; die Nettesten,»unter allen Stämmen« seien»die Schlesier und die Baiern«, 43 womit sich der