48 Fontane Blätter 107 Literaturgeschichtliches, Interpretationen, Kontexte der sogenannten ›Geschlechtscharaktere‹ und literarischen ›Gattungscharaktere‹ bündeln und personalisieren Nationalcharaktere alte Stereotype (hier: Völkerstereotype) zu organischen und hierarchischen ›Wesenheiten‹ mit psychophysischenEigenschafts-Sets. 53 Deren Genese und Entwicklung ist bestimmt von natürlichen – etwa klimatischen und zunehmend biologischen – sowie kulturellen Faktoren. Entsprechend entwirft Fontane ein raum-zeitliches Entwicklungsmodell preußischer Identität bzw. Nicht-Identität. In seinen Wanderungen durch die Mark Brandenburg modelliert er zunächst aus einem ›germanisch-wendischen‹ Amalgam in der»Mittelmark« 54 einen ethnisch und moralisch gemischten, ›altpreußisch-märkischen‹ Charakter, der im Kernmerkmal freiheitlichen, kritischen Oppositionsgeistes selbst energisch gegen das landläufige Negativ-Stereotyp preußischen Repressions- und Untertanengeistes opponiert: einerseits Vorteilsdenken, Verschlagenheit, Misstrauen, Streitsucht, Derb- und Sturheit, andererseits aber positiv verstandene Aufmüpfigkeit, Furchtlosigkeit, Frechheit, Pfiffigkeit und Witz, Schlichtheit, Ordnungsliebe, Zähigkeit, Nüchternheit, Zielstrebigkeit, so lauten ›typische‹ – und ›typisch ambigue‹ – Zuschreibungen im Detail. 55 Später, in einem Nachtrag von 1889, Die Märker und die Berliner und wie sich das Berlinertum entwickelte, stellt die Image-Kampagne dann vollends auf die 1848 noch beklagte ›unnatürliche‹, polyethnische Identität um. 56 Sie verdanke sich einem langen geo- und soziopolitischen Austauschprozess, in welchem die Ansiedlung französischer Hugenotten, kriegsbedingte Migrationen, territoriale ›Zugewinne‹ oder die»über halb Europa« 57 zusammengezwungene preußische Armee mit ihrer Vielsprachigkeit und ihrem Zugleich aus»eiserner Disziplin[…] und innerster Auflehnung« ihrer Soldaten wichtige Stationen sind. Pointiert formuliert: Die Mitgift Preußens in das nationale Ganze ist nun, um 1890, eine positiv verstandene, ›moderne‹ und nur in Oxymora fassbare ›alteritäre Identität‹. 58 Halten wir also fest: Der alte ›in der Wolle gefärbte Preuße‹ Autor Fontane, der seine bi-nationalen und multi-regionalen Wurzeln 59 bspw. auch in seinen späten autobiographischen Kinderjahren so bunt und liebevoll bebildert, steht im Alter selbstbewusst zu dem neupreußischen»Mischungsbottich« 60 , den der junge Verfasser von Preußens Zukunft 1848 noch als Mangel an ›natürlicher‹ Identität empfindet. Mehr noch: Diesem jungen Publizisten fehlt selbst das ›Upgrade‹, das sich der Autor der Wanderungen im Positiv-Konstrukt des altpreußisch-märkischen Nationalcharakters zwischenzeitlich erschreibt. Umso spannender ist die Frage nach der Sicht, die dieser gewissermaßen gedoppelte ›waschechte‹ Preuße auf andere,»außerpreußische[]« 61 ›deutsche Nationen‹ hat – am heutigen Abend selbstredend vor allem: auf»ausgesprochene Sachsen«.
Heft
(2019) 107
Seite
48
Einzelbild herunterladen
verfügbare Breiten