Heft 
(2019) 107
Seite
49
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›Typisch Fontane‹? ›Typisch Mathilde‹? Loster-Schneider 49 II.2.1 Stereotypekritische Selbstbehauptung in Von Zwanzig bis Dreißig Eine aus literaturwissenschaftlicher Sicht ideale Quelle für dieses Kapitel ist die eingangs genannte Autobiographie von 1898, Von Zwanzig bis Drei­ßig, 62 wo Thema und Doppelperspektive ›gattungstypisch‹ aufgefangen sind: Sie sind nämlich Funktion der individuellen, im Wahrnehmungskont­rast von erzähltem Ich und Erzähl-Ich eingespannten Selbstdarstellung. Im teils sachlichen, teils einfühlenden, teils amüsierten Rückblick aus rund 50-jähriger Distanz lässt der alte Fontane sein jugendliches alter ego»aus­gesprochenen Sachsen« wiederholt begegnen. Dies erstmals, als er die Leipziger Apothekerstelle antritt und den ihm zugewiesenen Arbeitsplatz »Nummer zwei« einnimmt:»[A]uf Nummer drei und vier aber standen zwei junge Herren meines Alters[] beide, wie auch der Herr auf Nummer eins, ausgesprochene Sachsen.« 63 Weitere Vertreter sind der Arzt Dr. Reuter,­ein»sehr hübscher, eleganter Herr«, der Leipziger Publizist Dr. Günther mitsamt seinem»Chef«, 64 dem Verlagsbuchhändler(und Heraus­geber der Eisenbahn) Robert Binder. Letzterer»war ein ausgesprochener Sachse, fein und verbindlich, aber zugleich von weltmännischem Gepräge, so daß man deutlich empfand, er müsse längere Zeit im Auslande gelebt haben.« 65 Während sich ›ausgesprochenes Sachsentum‹ so im ersten Schritt einheitlich an gutem Aussehen, Eleganz, Politesse, Schliff und Weltläufigkeit festmacht, differenzieren andere Textpassagen, je paarwei­se, zwei psychophysische Unterformen eines sächsischen Phänotyps aus. So ist von den 15-jährigen Zwillingstöchtern Neuberts die»eine ganz brü­nett, die andere ganz blond. Die Blonde war sehr hübsch; die Brünette we­niger aber dafür sehr apart, sehr raçevoll und Liebling des Vaters, der sie seine ›schwarze Jette‹ nannte.« 66 Was für die zwei Mädchen gilt, gilt für sächsische Männer nicht minder: Die selbstironisch als»Sachsenhymne« bezeichnete Passage adressiert zwar sowohl Günther wie Binder als ›ausgesprochene Sachsen‹, aber»von sehr entgegengesetzter Art« der eine repräsentiere»den sentimentalen sächsischen Typus« des»Kaffeesachsen«, der andere den»energischen, lei­denschaftlichen, zornig verbitterten« Typus. Glücklicher Weise sei dieser der häufigere, denn:»Daß die Sachsen sind, was sie sind, verdanken sie nicht ihrer ›Gemütlichkeit‹, sondern ihrer Energie.« Trotz eines gewissen Beisatzes»krankhafter Nervosität« übertreffe diese»als Lebens- und Kraf­täußerung« aber immer noch»jeden anderen deutschen Stamm«, was dem Autobiographen die Schlussfolgerung erlaubt:»Die Sachsen sind über­haupt in ihrem ganzen Tun und Wesen noch lange nicht in ihrer Art über­holt, wie man sichs hierzulande vielfach einbildet.[] Sie sind die Überle­genen und ihre Überlegenheit wurzelt in ihrer Bildungsüberlegenheit, die nicht vom neusten Datum, sondern fast vierhundert Jahre alt ist.« Alle seien