50 Fontane Blätter 107 Literaturgeschichtliches, Interpretationen, Kontexte »durch ihr hohes Bildungsmaß vor Fehlern geschützt, wie sie sich in andern deutschen Landen, ganz besonders aber im Altpreußischen, sehr hochgradig vorfinden.[…][A]lle haben[…] die neue Zeit begriffen.[…] Anachronismen in der gesamten Anschauungswelt[…] sind in Sachsen unmöglich.« 67 Wir haben diese Stelle so ausführlich zitiert, weil sie uns über die Vorstellung ›ausgesprochener Sachsen‹ hinaus auch Fontanes ›typischen‹ Umgang mit Stereotypen zeigt – zumindest in diesem spezifischen Text: Erstens nämlich aktiviert Fontane mit der semantischen Leerformel von den ›ausgesprochenen Sachsen‹ bei seinem gesamtdeutsch-heterogenen Publikum zunächst ein – wie auch immer geartetes – stereotypes Vorwissen, das er an der eigenen Erfahrung prüft und spiegelt: Konstant – und in hörbarem Kontrast zum Preußentum – erscheint das Positiv-Stereotyp von Weltgewandtheit, historisch langläufig erworbener Zivilisiertheit und Modernität, wie er, meist weiblich konnotiert und komplementär zum ›Männlich-Preußischen‹, in zeitgenössischen Quellen erscheint. 68 Parallel zum ›zweideutigen‹ altpreußischen Mischcharakter sind hingegen psychophysische Merkmale modelliert: ›Ausgesprochene Sachsen‹ sind blond und brünett, sentimental und leidenschaftlich-kraftvoll, nervös und energischvital usw. ›Texttypischer Weise‹ ist diese Doppelungs-Technik nun aber keineswegs den Sachsen vorbehalten: Im weltläufigen Hause Binders trifft der junge Fontane bspw. auch auf zwei»typische Westfalen«,»als Cheruskersöhne« beide mit»Vornamen Hermann«,»der eine stattlich groß, der andere indessen das genaue Gegenteil«. 69 Und die zwei einträchtigen »Tempelwächter« der Dresdner Salomonis-Apotheke schließlich, ein»Lüneburger und ein Stuttgarter, also Welfe und Schwabe«, ›Guelphe und Ghibelline‹, seien beide»schöne junge Männer«, der eine dank seines chicen Pariser Habits, der andere, in ›natürlich-angeborener‹ Weise, dank seines»mächtigen rotblonden Sappeursbart[es]«. 70 Zweitens verrät der Text – avant la théorie – so einiges Wissen über Genese, Struktur, Kontextbindung und Funktion solcher Generalisierungen und Stereotype: ›Ausgesprochene Sachsen‹ werden nicht isoliert, sondern stets relational und im Vergleich mit anderen ›ausgesprochen‹ – hier: Bayern, Westfalen, Schwaben, Preußen. In den ironischen Allusionen auf ›altdeutsche‹ Legitimationsmythen wie Hermann den Cherusker oder den Nord-Süd-Antagonismus von Welfen und Staufern zeigt sich zudem der Blick auf die historische Tiefendimension solcher – meist asymmetrischen – Selbst- und Fremdwahrnehmungen. Und der Text weiß auch um den riskanten, hoch emotionalen Impact solcher Zuschreibungen und seiner Bedeutung für kollektive wie individuelle Identitätsbildungsprozesse. Und genau hier ›verlinkt‹ Von Zwanzig bis Dreißig das politische Feld der National- und Regionalstereotype mit literarischen Gattungsstereotypen, um sie in dieser ästhetischen Transformation mit einigen wahrnehmungskritischen ›Kippmomenten‹ zu verbinden.
Heft
(2019) 107
Seite
50
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