Heft 
(2019) 107
Seite
51
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›Typisch Fontane‹? ›Typisch Mathilde‹? Loster-Schneider 51 Im Hinblick auf die ›fontane-typischen Ambivalenzen‹ verlohnt ein genaue­rer Blick: Wie eingangs erwähnt, erzählt der Text den zweijährigen Sach­senaufenthalt als erste Fremd- und Auslandserfahrung des jungen ›in der Wolle gefärbten Preußen‹, und dies zu Zeiten des»jetzt Gott sei Dank leid­lich hingeschwundene[n] Gegensatzes zwischen den beiden Nachbarstäm­men« 71 . Von Beginn an sind Wahrnehmung und Wahrgenommen-Werden des erzählten Ichs dabei Funktion von historisch-kollektiven, nun ins Per­sönliche projizierten»Soupçon[s]«, von Konkurrenz, Hierarchie und Selbst­behauptung. Mehr noch: Der junge Repräsentant des historisch siegreichen ›jungen‹ Preußen erfährt im vormals ›feindlichen Terrain‹ des alten Kultur­landes Sachsen salopp gesprochen des Öfteren sein ›Waterloo‹: Das his­torisch gewachsene Leipzig ist ›berauschend‹ schöner als das rationalisti­sche Stadtbild Berlins, ja, torpediert, um mit Lippmann zu reden, das ›Bild im Kopf‹ 72 von»Städteschönheit« 73 an sich. Die eigenmächtigen Honneurs bei der statusbewussten Dame des Hauses bringen den Neubertschen Lehrling die Treppe ebenso flugs hinunter wie hinauf; die mondäne Gattin Binders taxiert ihn auf den ersten Blick hinter die beiden Westfalen-Her­manns, und der elegante Dr. Reuter habe ihn nur geliebt, um»seinen star­ken Preußen-Antagonismus« an ihm auszulassen und ihn mit ironischen Nachfragen nach der ›jroßen Nation‹« zu mobben. 74 In Dresden schließlich spiegelt sich Theodors modisches Outfit aus der Hand eines preußischen Provinzschneiders an dem»mich tot machenden falschen Pariser«, und stei­gert seine gefühlte, so wörtlich,»Minderwertigkeit«. 75 Will sagen: Der autobiographische Erzähler zielt also nicht nur auf eine Nivellierung des preußischen und sächsischen Nationalcharakters in Sa­chen ›ungermanischer‹ Hybridität. Im erinnerungspolitischen Rückblick demontiert er auch deutlich jegliche Form von ›Provinzialdünkel‹, 76 altem wie neuem, sächsischem wie preußischem. Entsprechend folgt dem»Zu­sammenbruch« 77 von Jung-Theodors preußischer Gloria und postwenden­der Glorifizierung der Gegenseite nun, 1898, die finale ›Zurecht-Rückung‹. Und gleichgültig, ob dem Bedürfnis nach später Genugtuung, poetischer Gerechtigkeit oder humoristischer Zuspitzung geschuldet die Fallhöhe der genannten ›Anderen‹ ist im weiteren Textverlauf beträchtlich. Die hier­für benutzte Technik, ein erstes, meist äußerliches Merkmal zu setzen und dann zu irritieren, ist dabei ebenso wahrnehmungskritisch gemeint, wie sie auf Fontanes langjährige Reibung an diesem Problem verweist. So findet sich schon in Kriegsgefangen diesem eminent stereotype-kritischen Text von 1870 78 die inzwischen einigermaßen berühmte ›Peter-Parley‹-Stelle. 79 Fontane rekurriert hier auf Samuel G. Goodrichs illustriertes Kinderbuch Peter Parleys Erzählungen über Europa, Asien, Afrika und Amerika von 1841, das einleitend alle Nationen im»Lapidarstil« charakterisiere. Um sich von der eigenen Angst bei seiner Verhaftung durch eine korsische Miliz