Heft 
(2019) 107
Seite
52
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52 Fontane Blätter 107 Literaturgeschichtliches, Interpretationen, Kontexte nachträglich zu distanzieren, fährt der Erzähler in einer typischen Verall­gemeinerung fort: Wie oft habe ich über Peter Parley gelacht. Im Grunde genommen ste­hen wir aber allen fremden Nationen gegenüber auf dem Peter-Parley­Standpunkt; es sind immer nur ein, zwei Dinge, die uns, wenn wir den Namen eines fremden Volkes hören, sofort entgegentreten: der lange Zopf, oder Schlitzaugen, oder ein Nasenring. Unter einem Korsen hatte ich mir nie etwas anders gedacht als einen kleinen braunen Kerl, der seinen Feind meuchlings niederschießt und drei Tage später von dem Bruder seines Feindes niedergeschossen wird. 80 Folgerichtig anders als der Jugendautor Parley-Goodrich verfährt Fontane mit ›fremden Nationen‹ in Von Zwanzig bis Dreißig. Er stört die Wahrneh­mungsroutine, vom ersten äußeren Anschein auf Sein und Bedeutung zu schließen: Der ›ausgesprochene Sachse‹ Binder,»ein so feiner Herr er war, war leider unbedeutend«, da ohne Menschenkenntnis und Unternehmer­glück; 81 das schöne Kollegen-Paar in Dresden,»gute Kerle wie sie sonst wa­ren,[hatten] außer Sappeursbart und Rockschnitt herzlich wenig zu bedeu­ten«. Und keinesfalls taugen sie für die»damals noch ganz aufrichtig von mir geglaubte Stammesüberlegenheit der Niedersachsen und Schwaben«. 82 Wohlgemerkt die Negierung dieser ›Stammesüberlegenheit‹ hier meint keineswegs die Behauptung von ›Stammesgegensätzen‹ und Niveauun­terschieden generell. Deren Existenz steht bei wechselnden Begründungs­systemen Fontane lebenslang außer Zweifel. 83 Mehr noch: Solch asymme­trisches Differenzdenken ist, so Fontane über den Moritz-­Lazarus-Freund Fontane, gerade bei in- und exklusorischen Situationen des Kulturkon­takts, der Fremd- oder gar Krisenerfahrungen, ›typisch Fontane‹: Nie habe er in»Völkerpsychologie und vergleichender Stamm- und Rassenforschung so geschwelgt«, als während seiner Kriegsgefangenschaft. 84 Und das ver­gleichende ›Durchhecheln‹ gemeinsamer Berliner und Leipziger Freunde ist so auch in Von Zwanzig bis Dreißig das gemeinsam und genüsslich ge­rittene»Steckenpferd« des jungen Fontane und seiner angeheirateten »Tante Pinchen« 85 die übrigens, laut Erzähler, das genaue Gegenteil von dem ist, was ihr altjüngferlicher Name stereotyp vorstellen lasse, nämlich jung, hübsch, kokett. Wie nun aber die Widerrede des Erzählers gegen die neupreußischen ›Einbildungen‹ von der ›Überholtheit‹ der Sachsen und sein Plädoyer für die historisch gegründete sächsische»Bildungsüberlegenheit« am Ende der»Sachsenhymne« zeigen, 86 sind im Text solche Unterschiede weder nur ›natürlich‹-biologistisch, noch starr modelliert. Zumindest im nationalen Raum sind sie stets auch das veränderliche Ergebnis langläufiger histo­rischer Prozesse, mit einem entsprechenden Potenzial zu dynamischen Verschiebungen im gesamten Bezugs- und Vergleichsfeld. Nicht zufällig adressiert unser erstes Textbeispiel Von Zwanzig bis Dreißig so das