Heft 
(2019) 107
Seite
53
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›Typisch Fontane‹? ›Typisch Mathilde‹? Loster-Schneider 53 ­vergleichsweise ›junge Paar‹ Sachsen und Preußen, und ebenso wenig zufäl­lig steht es neben den ›Kernländern‹ des nationalen Mythos, mit ihren ver­meintlichen ›Stammesüberlegenheiten‹ und dem ›alten Paar‹ der ›Guelfen und Ghibellinen‹. Komplementär und realistisch verstanden, sind die inner­deutschen ›Nationaldifferenzen‹ Chance zu Vielfalt, produktivem Wettstreit und somit Fortschritt. IIlusionistischen Fehlwahrnehmungen geschuldet und als unversöhnliche Antagonismen tradiert, bergen sie hingegen erheb­liche Risiken wenn nicht, wie schon bei Herder und Kant, 87 für den Welt­frieden, so doch zumindest für das gedeihliche Miteinander im ›gemischt­nationalen‹ Raum Fontanescher Romane. II.3 Fontanes Ambivalenz in riskanztheoretischer Perspektive Und damit kommen wir zum zweiten Textbeispiel Mathilde Möhring und zum Versuch, das Autor- und Werkstereotyp ›Fontanescher Ambivalen­zen‹, das wir bislang an National- und Regionalstereotypen in Von Zwan­zig bis Dreißig verfolgt haben, noch anders zu perspektivieren. 88 Diesen neuen Verstehensrahmen soll die kulturwissenschaftliche Risikoforschung stellen. Kurz zur Erläuterung: Dieser Ansatz definiert ›Risiko‹, konstrukti­­vistisch mit Niklas Luhmann u. a., 89 als säkulares und auf Rationalität ge­stelltes, beobachtungs-, wissens- und entscheidungsabhängiges Konzept menschlicher ›Unsicherheitsbewältigung‹. Historisch bedingt ist es inso­fern, als es menschliche Universalthemen wie mögliches Unglück, Glück oder Glückswechsel nicht mehr transzendental adressiert, sondern der indi­viduellen Einschätzung, Verfüg- und Machbarkeit überstellt. So werden wichtig im Hinblick auf die Soziale Frage und Mathilde Möhring im 19. Jahr­hundert bspw. auch Existenzsicherung und Armutsvermeidung zunehmend zur Frage kluger(kollektiv-staatlicher wie individueller) Beobachtung, Ein­schätzung, Entscheidung, Steuerung, Einsatz- und Handlungsbereitschaft. Oder, um es sprichwörtlich und stereotyp zu formulieren: ›Glück hat be­kanntlich auf Dauer nur der Tüchtige‹, ›nur ihm gehört die Welt‹, ›wer wagt gewinnt‹, auch wenn er dabei ›Kopf und Kragen riskiert‹ und vor allem: ›Selbst ist der Mann‹ ›do nothing‹ hingegen ist keine Option. Mit der letzten Formel kommen dabei auch Geschlechterstereotype ins Spiel, wie Fontane sie bekanntlich gerade in Mathilde Möhring satirisch vorführt. 90 Implizit eigen sind sie dem Risiko-Konzept schon an sich in den Aspekten männlich semantisierter Rationalität und Autonomie sowie in der Unterscheidung von risiko-affinem und risiko-aversem Verhalten. Nun ist hier und heute nicht der Ort, ausführlich gendersensible Risiko­forschung zu diskutieren. Verdichtet nur so viel: Epigenetische Ansätze wie z. B. von Lise Eliot 91 postulieren geschlechtsdifferentes Risikoverhalten