54 Fontane Blätter 107 Literaturgeschichtliches, Interpretationen, Kontexte sowohl biologisch, aus neuronalen und hormonellen Faktoren( sensation seeking), wie infolge soziokultureller Prägung, entlang historisch variabler Distinktionslinien von ›race‹, ›class‹, ›age‹, ›religion‹. Auch mentalitätsgeschichtliche Ansätze interpretieren seit Ulrich Becks Urschrift zur Risikogesellschaft von 1986 92 Risikofreude als ›männlich‹ und deklarieren sie zum Schlüsselmerkmal bürgerlicher Mentalität im ›langen 19. Jahrhundert‹ und zum Motor von Autonomie, Emanzipation, Fortschritt, Unternehmensgeist und Wohlstand, 93 was wiederum die internationale Prominenz der soziologischen Männlichkeitsforschung von Bourdieu über Connell bis Meuser breit ausschreibt. 94 Weibliches Risikoverhalten hingegen ist stereotyp konnotiert mit Risikoscheu, Vorsicht und Sicherheitsorientierung. Hinzu kommt, bei stereotyp weiblicher Emotionalität und restringierten Wissens-Zugängen, auch schwächeres Risiko-Kalkül auf der weiblichen Seite. In der diskurshistorischen Analyse entpuppt sich diese vergeschlechtlichte Opposition von risiko-affinem vs. risiko-aversem Verhalten dabei als recht untote Wiedergängerin eines uralten, antik-christlichen Eigenschafts-›Paars‹ von männlich-kühn vs. weiblich-furchtsam, welches viele ›Meisterdenker‹ am Beginn der historischen Moderne ins ›lange 19. Jahrhundert‹ hinüberkopiert haben. Als Beleg mag ein Griff in die – auch von Fontane-Figuren gern geöffnete – Kiste populärer SchillerZitate genügen:»Tugenden brauchet der Mann, er stürzet sich wagend ins Leben«, beginnt ein Epigramm von 1796. 95 Wichtig nun für die Literaturwissenschaft: Wie dieser Schiller‘sche ›Mini-Plot‹ – ›Mann stürzt sich wagend ins Leben‹ – zeigt, bilden sich in diesem Prozess auch verschiedene, populäre ›Erzählungen‹, die Kernelemente des Risiko-Konzeptes abrufen. Neben ›Männlichkeit‹ transportieren sie vor allem ein dreischrittiges Basisnarrativ, will sagen: Die Protagonisten stellen gegenwärtige Situationen und Beziehungen als Risiken fest, das heißt, sie nehmen sie nach unsicheren Gefahren-/Chancen-Potenzialen für eine stets ungewisse Zukunft wahr. Im nächsten Schritt folgt die quantitative und qualitative ›Kalkulation‹ nach Faktoren, Wahrscheinlichkeiten, Erfolgsaussichten und minimierten Rest- und Folgerisiken, um abschließend zu entscheiden und zu handeln, sprich ›das Risiko entweder zu scheuen‹ oder ›es zu wagen‹. Was besonders in der zweiten Phase ›zu wissen not tut‹, ist – um nochmals mit ›Peter Parley‹ zu reden –, Wissen und Erfahrung über die faktische Welt. Nötig ist zudem eine – stets vorgeprägte – visionäre Phantasie ›möglicher Welten‹ – in welch reduziert-stereotyper oder origineller Form auch immer. Und hier nun kommen wieder die ›fontane’schen Ambivalenzen‹ in den Blick: Aus risikotheoretischer Perspektive bleiben nämlich auch das gesichertste Wissen und die sorgfältigste Prognose stets ungewiss und abhängig von historischer Epistemik und Subjektivität; auch best kalkulierte Risiken bleiben kontingente Konstruktionen, und alles Risiko-Handeln fußt
Heft
(2019) 107
Seite
54
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