Heft 
(2019) 107
Seite
55
Einzelbild herunterladen

›Typisch Fontane‹? ›Typisch Mathilde‹? Loster-Schneider 55 auf ›Entscheidungen unter Unsicherheit‹. Risikokompetenz als zentrales Merkmal moderner Mentalität erfordert von Akteuren und Akteurinnen daher nicht nur Risikoaffinität und Rationalität, sondern auch ein erhebli­ches Maß an Unsicherheitstoleranz. 96 II.3.1 Typisch Mathilde oder Mathilde Möring als potenziertes ästhetisches Wahrnehmungsrisiko Unser satirischer, in den Umbruchsjahren 1888 bis 1890 spielender Roman Mathilde Möhring nun erzählt in zwei Makrosequenzen die Geschichte ei­ner jungen, mit ihrer verwitweten Mutter lebenden Berlinerin, die ihrer drohenden Verarmung und sozialen Deklassierung zunächst mit einer tra­ditionellen Versorgungsehe entgegensteuert. Später, nach dem frühen Tod ihres Mannes Hugo, geht sie mit der eigenen Erwerbstätigkeit als Lehrerin den ›emanzipierteren‹ Weg. Dabei stellt Fontane, so unsere These, das er­zählte Geschehen konsequent unter die Riskanz-Perspektive, indem er es thematisch in die drei politischen Hochrisiko-Kontexte des Kaiserreiches von ethnizistischer Nationalisierung, ›Sozialer Frage‹ und ›Frauen-Frage‹ einlagert und die Riskanz des traditionellen weiblichen Versorgungsmo­dells vor Augen führt. 97 Erzähltechnisch modelliert er das Geschehen als satirische Charakter-Studie, deren ironische Handlungs-Umschläge sich unschwer als Folgerisiken charakterlich bedingter Wahrnehmungsdefizite der Heldin lesen lassen. Mathilde nämlich besitzt zwar die männlich kon­notierten Eigenschaften von Risikofreude und kalkulatorischer Rationali­tät. Über Unsicherheitstoleranz verfügt sie aber nicht, weshalb sie sich, sa­lopp gesprochen, im ersten Anlauf, ihr Glück zu machen, ›verzockt‹ und scheitert: Im Lebensmodell ›Ehe‹ stets auf einen anderen angewiesen und bei individuell schlechten Chancen am Heiratsmarkt, setzt sie nicht nur voll auf das riskante Schema ›starke Frau hinter schwachem Mann‹ und einen hier passenden, weil manipulierbaren Kandidaten. Das anfangs erfolgrei­che Spiel gerät ihr just in dem Augenblick ›aus der Hand‹, als sie, auf dem Höhepunkt des Woldensteiner Erfolges, auch unverfügbare Folgerisiken in Form von sozialen Zwängen geschaffen hat, die bei Hugos labiler Gesund­heit nichts weniger als tödlich sind: für sein Leben im wörtlichen, für ihr Leben im übertragenen Sinn. Nach dieser ›dramatischen‹ Zäsur und Um­kehr fortan nur noch allein ›ihres Glückes Schmied‹, verlässt Mathilde im happy ending den novellistisch pointierten kleinen Roman als autonome, materiell gesicherte, moralisch und in ihrem Risikoverhalten gereifte Per­sönlichkeit, die fähig und willens ist, frühere Entscheidungen in ihrer Kon­tingenz zu tolerieren, 98 weniger scharf zu»rechnen« 99 und Zukunft nicht mehr als ›gewiss‹, sondern ›möglich‹ zu denken.