Heft 
(2019) 107
Seite
56
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56 Fontane Blätter 107 Literaturgeschichtliches, Interpretationen, Kontexte Wie dicht der Text auch in kleinsten ›Finessen‹ das Riskanz-Paradigma tat­sächlich verhandelt, zeigt sich schon in seinen ersten Sätzen bei Fontane bekanntlich stets besonders signifikant: Der Vermieter der Möhrings, Rechnungsrat Schultze, hat»in der Gründerzeit mit dreihundert Talern spe­kuliert«,»in zwei Jahren ein Vermögen erworben« 100 und bewohnt selbstre­dend die prestige-haltigste Wohnung der Immobilie. Gleichwohl sind aus Sicht des Erzählers dieses und andere Zeichen, die ›einem sofort entgegen­treten‹(Parley), wie in jeder guten Satire, zweideutig; entsprechend riskant sind sie für vereindeutigende Wahrnehmungen von Figuren und Publikum: Schultzes Wirtswohnung ist ebenso»Hochparterre« wie ›Bel-Etage‹, Vater Möhrings redensartliche Verhaltensmaxime 101 für seine Tochter Mathilde ist strittig, und auch ihr Äußeres erfüllt klischierte Erwartungen nicht voll: Für eine»ganz richtige Mathilde« habe sie zwar die passende, weil»um­sichtige«,»fleißige«,»praktische« Art, aber eine unpassende Erscheinung, aschblond und mit»grise[m] Teint«. Die Zuschreibung eines immerhin schönen»Gemmen-Gesicht[es]« trifft es auch nur halb, denn mit dem»ed­len Profil« kontrastieren schmale Lippen, spärlicher Haarwuchs, zu kleine Ohren und ein schielender»Blechblick«. 102 Nicht weniger Irritierendes gilt für den zimmersuchenden ›schönen‹ Jurastudenten aus der preußischen Provinz und künftigen Gatten der un­hübschen Berlinerin Mathilde. Nach der komischen Logik des ›angeschau­ten Widerspruchs‹ hält Hugo Großmann, der im Übrigen aus dem vormals polnischen Owinsk kommt, weder, was sein germanischer Vorname, noch sein urdeutscher Nachname stereotyp versprechen: ›Verstand und den­kenden Geist‹ 103 scheint im weiteren Verlauf nicht er, sondern dominant Mathilde zu haben, und ›groß‹ ist der Mann nur körperlich. Stattdessen, so Erzähler, Mathilde und er selbst im späteren Verlauf der Erzählung selten unisono, neigt Hugo innerlich zu Ängstlichkeit, Vorsicht, Selbst­zweifeln und ›unheldischem‹ Sich-Kleinmachen. 104 Sein Äußeres aber, wie der Erzähler es ›uns im ersten Blick entgegentreten lässt‹, lässt alle mögli­chen Deutungen zu, 105 nur keine stereotyp ›germanisch-deutschen‹:»breit­randiger Hut aus weichem Filz«, junges Gesicht und alt machender schwarzer Vollbart. Entscheidend für alles Folgende und unsere Frage­stellung ist indessen Mathildes erste ›Taxierung‹ des Kandidaten. Interes­segeleitet und durchaus zutreffend erkennt sie zwar seine ›Schwäche‹, lei­tet sie aber nicht aus Hugos widersprüchlicher Performance, sondern physischen Merkmalen ab:»Du siehst auch gar nichts, Mutter. Hast Du denn nicht seine Augen gesehen? Und den schwarzen Vollbart und ornlich ein bisschen kraus. So viel musst Du doch wissen, mit solchen ist nie was los«,»so einer sagt nie gleich ja«,»weil er bequem ist, weil er keinen Muck hat, weil er ein Schlappier ist.« 106 Wo genau Mathilde die vermeintlichen Marker von Hugos Schwäche ›ethnisch‹ verortet, bleibt dabei offen; dass sie es tut, ist jedoch ebenso offensichtlich wie die ›völker­psychologischen‹