›Typisch Fontane‹? ›Typisch Mathilde‹? Loster-Schneider 57 und sonstigen A usdeutungen aus dem heiklen Fundus ihres redensartlichen Alltagswissens. Neben der Wahrnehmungsproblematik markiert die Exposition so auch schon zwei, für das Riskanz-Paradigma wichtige Charaktereigenschaften der Heldin, nämlich: Mathildes scharfe Beobachtungsgabe, 107 aber auch ihre Neigung zu Verkürzungen, pointierten Schlüssen und heiklen Generalisierungen, mit denen sie stets und überall fix zur Hand ist: Wer als adliger Landrat eine Tänzerin aus Zagreb heirate, habe immer ein weiches Herz, weichherzige Menschen seien»immer faul und bequem«, weil ihr Herz»keinen rechten Schlag habe«, das japanische Volk sei, wie seine Lackmalerei beweise, den Chinesen kulturell überlegen, 108 und dem Polentum bedeute »feine Sitte« sehr viel – wobei der offen rhetorische Charakter dieser letzten Behauptung durchaus auch auf die gegensinnige Negativstereotype von der ›polnischen Wirtschaft‹ 109 schließen lässt. Die Bewertung von Mathildes riskanten Generalisierungs-Routinen ist im Text differenziert: Nicht allein, dass der Roman selbst oft nach populären ›Weisheitssätzen‹ zu funktionieren scheint, unter denen der sprichwörtliche Widerspruch vom ›Glück im Spiel und Pech in der Liebe‹ Mathildes Geschichte am besten trifft – und verfehlt. Indem Fontane sie gleich mehreren Figuren beilegt, erklärt er sie fiktionsintern zur menschlichen Universalie, die unterschiedliche Generationen, Geschlechter, Stände, Bildungsmilieus und Nationen verbindet: Hugo geht Mathilde schließlich in dem Augenblick blindlings ins Netz, als er sie zum»echte[n] deutsche[n] Mädchen« verkennt,»charaktervoll, ein Wesen[…] von einer großen Innerlichkeit, geistig und moralisch.« 110 Auch die alte Mutter Möhring legt sich die Welt mit Generalisierungen, stereotypen Redensarten und Sprichwortweisheiten zurecht. 111 Und der durchschlagende Erfolg der BürgermeistersGattin Mathilde resultiert nicht zum Wenigsten aus dem einhelligen Bemühen der ständisch, politisch, ethnisch und religiös sonst höchst ›gemischten‹ und dissenten Woldensteiner, einzelne Tugenden Mathildes»huldigend« der je eigenen Gruppe zuzuschlagen: Sie habe was von»unsern Leuten«, finden die jüdischen Kaufleute Silberstein und Isenthal. Der adlige preußische Landrat schließt von Mathildes»Muck, Rasse, Schick« 112 auf ihre aristokratische Herkunft, und der polnische Graf Gosching selbst als Greis noch ganz feudalistischer und polen-stereotyper Womanizer, bewundert, wiederum redensartlich, an der Berlinerin, was im kollektiven Imaginären ihn selbst und Hugos polenstämmigen Freund Rybinski auszeichnet, nämlich Risiko-Affinität:»[K]luge Frau, gar nicht ängstlich. Haben alles gesehen und denken immer, alles geht vorüber, und den Kopf wird es ja wohl nicht kosten.« 113 Entscheidend: Der Text lässt in diesem Fall nicht den kleinsten Zweifel, dass der Graf – anders als die anderen Woldensteiner – mit seiner Charakterisierung Mathildes individuell ins Schwarze trifft. ›Risiko-Freude‹
Heft
(2019) 107
Seite
57
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