58 Fontane Blätter 107 Literaturgeschichtliches, Interpretationen, Kontexte nämlich ist in dieser Satire das Kernmerkmal der Mathilde-Figur, und die Stringenz, mit der sie in ihrem Zukunftsentwurf ›alles auf eine Karte‹, sprich: auf Hugos Schwäche setzt, ist nur ›charakter-typisch‹. So ist die Heldin bspw. nur allzu gerne bereit, 114 auf ihre schnellschüssigen Beobachtungen, Pläne und Zukunftsprognosen zumindest verbal zu wetten, und der Fundus ihrer formelhaften Reflexionen, Handlungsschemata und Idole stammt nicht zum Wenigsten aus ihrer Passion für Kartenspiel und »Boston-Tisch«:»›Wer was will, der muss auch was einsetzen‹«, belehrt sie ihre Mutter. 115 Woldenstein sei jetzt die Karte, auf die zu setzen sei, berät sie ihren amtsunsicheren Gatten, 116 und selbst ihre Bismarck-Verehrung 117 ist kein Zufall: Ruft Fontane doch auch andernorts die populären Bilder von Bismarck als ambuigem ›Zocker‹ im Polit-Poker und von der Reichgründung als ›kalkulierbarem Risiko‹ auf. 118 Auch in seiner Bewertung von Mathildes Risiko-Freude ist der Text differenziert: Wirklichkeit und Zukunft überhaupt unter die Riskanz-Perspektive zu stellen, ist ebenso positiv wie Vereinfachungen, Stereotype und Generalisierungen universell und hilfreich sind, um entscheidungs- und handlungsfähig zu sein. 119 Tatsächlich reüssiert Mathilde anfangs ja gerade wegen ihrer Fokussierung auf Hugos Schwäche und ihrer Fähigkeit, in ihrer gesamten Risikobetrachtung diese Schwäche zugleich als Chance und Gefahr für das gemeinsame Karriereprojekt zu behandeln: So begegnet sie der nicht enden wollenden Kette von Gefahren, wie Studienabbruch und Bohème-Existenz, Examenspleite, Anstellungslosigkeit und Überforderung Hugos im Amt, mit einer souveränen Risikosteuerung aus strategischer Beobachtung des Feldes, Planung sowie Eliminierung oder Optimierung einzelner Faktoren. Der entscheidende, selbst riskante Fehler in ihrer Risikokalkulation sitzt freilich im blinden Fleck ihrer Wahrnehmung. Mathilde fehlt der für eine moderne Risikokompetenz unerlässliche kritische Blick auf die Subjektivität ihrer Wahrnehmung, mit ihren Automatismen und Irrationalismen. Bangigkeiten»geh[en] gleich wieder vorüber«, die Möglichkeit des ›Schiefsehens‹ und»Schiefgehen[s]« wird ausgeblendet, Abweichendes vom einmal gefassten Urteil unterdrückt. 120 Gegen besseres Wissen trifft sie so ›Entscheidungen nicht unter Unsicherheit‹, sondern vermeintlicher, trügerischer Sicherheit. Oder noch pointierter formuliert: Die Riskanz dieser Charakterschwäche Mathildes resultiert aus nichts anderem als der Negierung von Widerständigem und Zweifeln, von Ungewissheit und Unsicherheit – auf welche der Text selbst hingegen ›fontane-typisch‹ abstellt. 121
Heft
(2019) 107
Seite
58
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