›Typisch Fontane‹? ›Typisch Mathilde‹? Loster-Schneider 59 III Unsicherheitstoleranz als Bilanz Wenn Rybinskis Credo»Alles im Leben ist bloß Frage der Courage« 122 in dieser Satire gleichermaßen einem deutschen Reichsgründer, einem alten polnischen Grafen, einem jungen polnisch-preußischen Schauspieler und einer Berliner Kleinbürgerin auf die Fahnen geschrieben ist, belegt dies nicht nur die kritische Sensibilität Fontanes für die zunehmende Bedeutung der neuen, ›modernen‹ Unterscheidung von Risikofreude und Risikoscheu. Indem er sie individuell adressiert und quer zu den Differenzkategorien von Nation, Klasse, Alter und Geschlecht verteilt, nutzt und irritiert er – einmal mehr – die ›Normalmatrix‹ 123 dichotomer Zuschreibungen. Mehr noch: Auch diese neue Unterscheidung ist in seinem Gebrauch konfigurativ und kontextuell flexibel. In diesem textuellen ›Vexierspiel‹ aus ideologischen und sprachlichen»Diskurszitaten« 124 bleibt sie in die ›Beobachtung höherer Ordnung‹ und in die selbst ›riskante‹ Deutungs- und Sinnverfügung des Publikums delegiert, dem die hybride Gattungsstruktur aus AufsteigerRoman, Entwicklungs-Roman und komödienhafter Novelle zudem noch textklassifikatorische Wahrnehmungs- und Deutungsanker entzieht. Wie die Autobiographie Von Zwanzig bis Dreißig aus Sicht der Stereotypenforschung übt auch der Roman Mathilde Möhring, an der Wende zum 20. Jahrhundert und auf ureigenem ästhetischen Feld, Unsicherheitstoleranz als ›Schlüsselkompetenz‹ moderner Mentalitäten ein. Riskanztheoretisch neu gelesen, unterstreicht er so die Interpretationsbilanz ›fontane’scher Ambivalenz‹.
Heft
(2019) 107
Seite
59
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