76 Fontane Blätter 107 Literaturgeschichtliches, Interpretationen, Kontexte einen Tunnel, dem diese Erfindung gefiel und der ihr gleichen wollte. In dem Merckel von Woche zu Woche dem Verein dessen Historisch-Werden vorführte, entdeckte er ihm seine Gegenwart. Mit der Deutung des Ges­tern verlieh das Protokoll dem Heute Bedeutung. Was sich als Nachklang von Vergangenem gab, stimmte die Gegenwart ein und weckte eine Stim­mung, eine dem Tunnel spezifische. Merckel erkannte diese Scharnierstel­lung des Protokolls, mit dessen Verlesen jede Tunnel-Sitzung begann, und nutzte sie als Hebel, den Verein zu entspannen, zu homogenisieren, zu pro­vozieren – in jedem Falle: zu aktivieren. Die Latte, die er dabei auflegte, hatte ihr gehöriges Maß: Ueber irgend einem Theater soll einmal die Inschrift gestanden haben, Ridentur et corriguntur mores 35 . Heilige Einfalt! Glückliche, aber höchst dumme Zeiten, wo noch aliquid risu corrigi poterat 36 . Heut zu Tage sieht der Geck und der Schubiak,[ Streichung], der Mucker und der Schranze [ Streichung] mit dem vortrefflichsten Behagen sein Conterfey über die Bühne schreiten;[ Streichung] er sitzt stich= und schußfest in der Loge, und klatscht selber Beifall; kurz, man verlacht sich selbst mit, und bleibt der Alte. Auf diesem Gipfel der Zivilisation langte der Verein ebenfalls bereits an. […] 37 Stilistische Leichtigkeit war Gebot, und Merckel bot sie auf. Das Niveau, das er sich von der literarischen Produktion des Vereins erhoffte, verlangte er sich selbst ab. Als Sekretär gehörte er nicht nur zu den produktivsten, sondern auch zu den innovativsten Mitgliedern. Es darf der Nachwelt nicht vorenthalten werden, daß sich heute Abend 8 Uhr im Englischen Hause zu Berlin sechzehn Mitglieder des Sonntags Verein, genannt Tunnel über der Spree, mit sechs Gästen, auf jener be­deutenden Höhe des Lebens befanden, welche man nur erreicht, wenn man in jenem Hause 2 Treppen hoch steigt, sich rechts bei der Treppe u. links beim Abtritt vorbei windet u. drei Stufen erklettert, von denen jeder Ungeübte beim Oeffnen der Thür in einen Saal stolpert, der wie geboren zu dämagogischen[!] Umtrieben ist, weil die Polizei kaum da­hin findet. Süs s e Andacht und zarte Erwartung lag[!] auf den bärtigen und bartbefreiten Gesichtern des versammelten Kreises, als Petrarka dem Sekretair rezitativisch befahl, das Protokoll der letzten Sitzung und den Jahresbericht von sich zu geben. Beides geschah. Und als beides ge­schehen war gab Campe im Lapidarstyl den Ausgabe= u. Einnahme=Etat zum Besten. Alles befriedigte.[…] 38 Diese so gestiftete und in Szene gesetzte Vereins- und Protokollanten­existenz zeitigte Wirkung – und kein anderer Tunnelianer provozierte die Probe aufs Exempel nachdrücklicher als Theodor Fontane. Ihm bereitete Merckel, ohne es zu ahnen, aber ahnungsbedacht, den Boden. Das, was