Herausforderungen des Realismus Hehle 165 wohl umfassendste und kohärenteste Interpretation der»Chinesengeschichte« und eine überzeugende Figurenanalyse zu Innstetten bietet. Die Pointe der»Chinesengeschichte« besteht, wie schon Helmstetter( Die Geburt des Realismus aus dem Dunst des Familienblattes, 1998) konstatierte, darin, dass sie nicht erzählt wird, sondern in variiert wiederkehrenden, figurenperspektivisch gebrochenen Splittern über den Text verteilt ist. Die Figuren füllen die Leerstellen der»Geschichte« in verschiedener Weise auf, setzen sie in ihrer Kommunikation situationsabhängig und interessegeleitet, ja manipulativ ein(sowohl Innstetten und Johanna als auch Crampas manipulieren Effi, Effi ihrerseits wiederum Roswitha) und flüchten sich in semantische Unschärfe(die Trippelli). Gleichwohl wird der Spuk durch den Romantext als phantastisches Ereignis legitimiert: Zum einen ist nämlich nicht erklärlich, weshalb Effi bereits in ihrer ersten Nacht in Kessin( Effi Briest, Kap. 7) die Hochzeit im oberen Stockwerk imaginiert, also bevor Innstetten ihr diese Geschichte erzählt hat; zum anderen lässt die Schilderung der Ereignisse in der Spuknacht(Kap. 9) genau besehen weder eine ›natürliche‹ Erklärung noch eine Interpretation als Metapher oder Traumerlebnis zu. Vielmehr kommen im phantastischen Ereignis des Chinesenspuks psychische, politische und soziale Dimensionen des individuellen und kollektiven Imaginären zur Sichtbarkeit, womit erklärbar wird, dass sich so Disparates wie der zeitgenössische Kolonialdiskurs, die Effis Ehe überschattende Präsenz Bismarcks, Innstettens verdrängte Liebe zu Effis Mutter, Effis Angst vor der Wiederkehr einer schuldbesetzten Vergangenheit und vor einer drastischen Sanktionierung der erotischen Verfehlung in ihm spiegelt. Wie Begemann weiter zeigt, reflektieren die Spukgeschichte und Innstettens widersprüchlicher Umgang mit ihr ein epochentypisches Dilemma bei der Konfiguration von Wirklichkeitskonzepten, das mit der Krise des szientistischen Weltbildes in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Zusammenhang steht: Die Anerkennung von Wissenslücken durch die empirisch verfahrende Wissenschaft und die Infragestellung ihres eigenen prinzipiellen Erklärungsanspruchs machen das System des Wissens»anfällig« für die Wiederkehr älterer – metaphysischer, theologischer, aber auch abergläubischer – Erklärungsmodelle (S. 217). Neue Virulenz erlangen damit jene»survivals« oder»Überlebsel« aus älteren Kulturstufen, die Edward Burnett Tylor in seiner Theorie von der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen( Primitive Culture, 1871) beschreibt. Wie gut sich diese Theorie für die Analyse der Literatur des Realismus und insbesondere der Romane Fontanes eignet, hat vor einigen Jahren Gerhart von Graevenitz( Theodor Fontane: ängstliche Moderne. Über das Imaginäre, 2014) gezeigt. In Effi Briest sind die»survivals« nicht ausgelagert in Nebenfiguren(wie Hoppenmarieken, die Buschen oder die Jeschke), sondern bilden eine Schicht von Innstettens Bewusstsein. Daher
Heft
(2019) 107
Seite
165
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