Tagungsbericht Genzel 187 spuren als Teil eines Lese- und Schreibprozesses in den Vordergrund rückte und somit die Autorenbibliothek zur ›Werkstatt des Dichters‹ erhob. Ausgehend von Bruno Latours Definition der ›Inskription‹ als ›Transformation, durch die eine Entität in einem Zeichen, einem Archiv, einem Dokument, einem Papier, einer Spur materialisiert wird‹, wendete Wirth den Begriff auch auf Lesespuren als Formen der Einschreibung an. Dabei bezog Wirth den Begriff der ›Inskription‹ auf Lesespuren im engeren Sinn, d.h. auf konkret absichtlich eingefügte Zeichen(z.B. indexikalische Zeichen und Symbolzeichen) und schloß Gebrauchsspuren aus. Im Zusammenhang damit nehmen Lesespuren als ›inter-avant-texte‹(Almuth Grésillon) und Vorstufe der Textgenese eine zentrale Position innerhalb von Wirths Modell zur Textproduktion ein. In Anlehnung an Roland Barthes´ Vorstellung vom ›Tod des Autors‹ und dem damit einhergehenden Zusammenfall vom Lese- und Schreibprozess sowie der Bestimmung vom Autor als Scripteur stellte er hier die verschiedenen Stufen der Textwerdung und ihrer Instanzen vor. Vor dem Hintergrund der Intertextualitätsforschung setzt sein Modell beim Leseprozess fremder Texte und den dabei entstehenden Inskriptionen sowie Transkriptionen an und mündet über die Arbeitsschritte eines Lecteurs, Scripteurs und eines sogenannten»Proto-Auteurs« in einen»neuen« Text. Ebenso standen in Andreas Kilchers(Zürich) Vortrag»Buch der Bücher. Bibliothekarisches Schreiben in Thomas Manns Josephs-Roman« die Lesespuren als Abbild von Thomas Manns Schaffensprozess im Zentrum. Anhand von Manns Roman-Tetralogie Joseph und seine Brüder führte Kilcher exemplarisch dessen »bibliothekarische Schreibweise«(d.h. ein Schreiben aus Büchern mit Büchern bzw. lesendes Schreiben) vor, die sich gleichsam für seine Lesespuren nachweisen lasse. Auch die aus Lese- und Schreibprozess konstituierende Einheit hob Kilcher hervor und beschrieb Manns bibliothekarisches Schreiben zugleich als ein transtextuelles im Sinne von Genette. Mit Kilchers Verweis auf technische Ähnlichkeiten bei Mann und dem Protagonisten Joseph, demzufolge bei beiden epigonales Schreiben vorliege, werde zudem Thomas Manns konzeptuelle Reflexion dieser bibliothekarischen Schreibweise deutlich. Auch Martina Schönbächler(Zürich) verwies in ihrem Beitrag»›[F]ehlerhafte[] Thatsächlichkeit‹? – Thomas Manns Bibliothek als Medium seiner Poetologie« auf die Verknüpfung von Lese- und Schreibprozess. Neben der Bedeutung von Thomas Manns Lektüre für sein literarisches Schaffen spiele jedoch umgekehrt zugleich der Einfluss seines literarischen Werkes auf seine Bibliotheksbestände eine wichtige Rolle. Schönbächler erhob den Autor zu einer bibliothekskonstituierenden Instanz und beschrieb ihn als»Linse«, durch die Werk und Bibliothek sich gegenseitig spiegeln würden. Auf diese Weise werde die Bibliothek sowohl zum Ort der Erfindung als auch der Wiederfindung im Sinne der Projektion des Eigenen auf das fremde Material eines Autors. Demgegenüber gelte es zugleich Autorenbibliotheken in Anlehnung an einen hermeneutischen Ansatz getrennt von Inskriptionen und/oder der Intention des Autors zu betrachten. Gleichermaßen beschäftigte sich Yahya Elsaghes(Bern) Vortrag»›Weistu was so schweig‹. Thomas Manns Verwertung seiner Lesespuren in Heinrich Teweles´ Goethe und die Juden« mit Lesespuren als Teil der Textproduktion. Dabei konzentrierte er sich auf die Untersuchung des Zeitpunktes der Lektüre von Teweles´ Goethe-Buch sowie den Textstellen, die gelesen wurden und denen, die Thomas Mann nicht gelesen habe und überprüfte, welche Lesespuren in welchem Zusammenhang in sein Werk Eingang gefunden haben. Hierbei konnte mit Hilfe einer diachronen Betrachtung von Thomas Manns Lesespuren festgestellt werden,
Heft
(2019) 107
Seite
187
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